Der erste Vortrag des Programms kam von Verlegerin Monika Osberghaus, die anhand diverser Kritikwellen für ihre Bücher aufzeigte, mit welchen Diversitätsansprüchen Kinderbuchverlage heute konfrontiert sind. Hätte es Erwachsene vor dem großen PISA-Schock herzlich wenig interessiert, was ihre Kinder lesen, würden sie heute mit dem "Wörter-Läusekamm“ nach gefährlichen Wörtern schauen. Der von Monika Osberghaus vermutete Grund dafür: Eltern sehnten sich nach einer neuen, heilen Welt, die in Kinderbüchern genau so dargestellt werden solle.
Kritik habe es beispielsweise für das Buch "AnyBody" gehagelt, ein Buch, das den Körper von A bis Z zeige, auf dem Cover jedoch keinen Menschen mit Behinderung aufführe. "Schlägt man aber den Schutzumschlag auf, erkennt man, dass ein Mann eine Beinprothese trägt", erklärt die Verlegerin. "Der Rollstuhl ist oft das Signal, dass das Buch divers ist. Die Illustratorin Antje Kuhl wollte zeigen, wie wichtig es ist, Behinderung zu zeigen, aber nicht auf die übliche Art. Die meisten Behinderungen sind auf den ersten Blick unsichtbar."
Osberghaus schloss ihren Vortrag mit dem Appell, die Literatur frei sein zu lassen. Literatur nach der Nennung bzw. Abwesenheit von Diversität einzuordnen, nehme ihr die Luft zum Atmen. "In einem Klima der Angst kann keine Literatur gedeihen. Wir brauchen mehr Literatur, die toll, vielfältig und experimentell ist."
Anschließend setzte sich der Lektor, Autor und Übersetzer Wolfgang Matz mit der Frage nach der Legitimität auseinander. Wer darf zu welchem Thema schreiben, wer darf welchen Autor übersetzen und wer darf wen kritisieren?
Matz plädiert vorweg dafür, dass das Wort "dürfen" zu oft verwendet werde, im Vorwurf als auch in der Verteidigung. Zunächst beschäftigte er sich mit den Vorwürfen gegenüber W.G. Sebald, der im vergangenen Jahr, zwei Jahrzehnte nach seinem Tod, dafür kritisiert wurde, wie er in seinen literarischen Werken in vermeintlich rücksichtsloser Aneignung mit den Geschehnissen aus seiner Umgebung und mit fremden Lebensläufen umgegangen ist. Kein Autor sei verpflichtet, über seine Schriftstellerei Auskunft zu geben, betonte Matz. „Die Selbstdarstellung von Schriftstellern ist selbst eine literarische Tätigkeit.“ In gewisser Weise lasse jeder Romancier offen, ob es sich um Fiktion oder biografische Realität handele.
Würde man die eigene Betroffenheit als Voraussetzung für die Legitimität des Schreibens fordern, würde man mit historischem Abstand bestimmte Themen aus der Literatur ausgrenzen.
Auch mit der Debatte um die richtige Übersetzerin für Amanda Gormans Gedicht, das Problem beim Übersetzen von alten Kinderbüchern wie Huckleberry Finn & Tom Sawyer und von Literatur verstorbener schwarzer Autorinnen, die das N-Wort benutzen, setzte sich Matz auseinander.
Im Anschluss stellte Tobias Voss, Geschäftsleitungsmitglied der Frankfurter Buchmesse und verantwortlich für internationale Kontakte und Austausch, anhand verschiedener Beispiele (China/Taiwan oder Spanien/Katalonien) dar, wie die weltgrößte Buchmesse über viele Jahre immer wieder zur Bühne für politische Konflikte wurde, ehe er auf den auch im vergangenen Herbst vieldiskutierten Umgang der Messe mit rechten Verlagen zu sprechen kam.
Letzter Referent des Vormittags war Matthias Politicky. Der Schriftsteller räumte ein, er habe die "Wokeness" in ihren Anfängen zunächst begrüßt und habe deren Positionen für typisch linkes Gedankengut gehalten - eine Sicht, die sich rasch wandeln sollte. Heute, sagt Politicky, habe die Aufklärung verloren und man befinde sich in der "Gegenaufklärung". Nichts anderes als das "betreute Lesen" und "betreute Schreiben" und damit auch unser Begriff der Freiheit würde derzeit in der westlichen Welt verhandelt werden.
Der Verleger sei über viele Jahre ein Synonym für Freiheitskämpfer gewesen. "Ein Schriftsteller ist seit eh und je ein Sprachrohr aller erdenklichen Minderheiten, allein dadurch, dass er sie in seinen Figuren abbildet. Er ist einer, der Vielfalt nicht nur fordert, sondern sie im Reich der Fantasie schafft." Dass man ihn nun zum Repräsentanten seiner eigenen Minderheit zurechtstutzen wolle, indem man ihm nur noch die Arbeit in seiner eigenen Welt zugesteht, sei vielleicht die subtilste Art des Schreibverbots, beklagte Politycki.
Zuletzt stießen die Börsenverein-Vorsteherin Karin Schmidt-Friderichs und Börsenblatt-Chefredakteur Torsten Casimir zum Podium dazu, um einzelne Punkte des Vormittags, insbesondere das Gendern, gemeinsam mit Gerhard Lauer und Diskutant:innen aus dem Publikum zu vertiefen. In dieser Schlussrunde ging es unter anderem um die Frage, welche Haltung hilfreich sein könne, damit identitätspolitische Kontroversen stärker auf gegenseitiges Verständnis denn auf Herabsetzung des jeweils anderen Standpunkts hinauslaufen. Unterschiedliche Einschätzungen gab es hinsichtlich der Frage, ob eher ein gelassener oder eher ein kämpferischer Ton im Umgang mit den diversen Anspruchshaltungen angemessen sei. Lassen Verlage sich zu schnell verrückt machen? Oder sind entgegenkommende Reaktionen - beispielsweise Triggerwarnungen in Büchern - eher ein Zeichen für Sensibilität und Verständigungsbereitschaft?
Die Fragen, die dieses Mainzer Kolloquium diskutierte, werden die Buchbranche auch weiterhin beschäftigen - und das womöglich kontroverser, als es in der Veranstaltung geschah.