Ihr neues Buch ist als Grundlegung des moralischen Fortschritts in einer Welt nach Corona gedacht. Hat die Pandemie die Notwendigkeit einer neuen moralischen Aufklärung verschärft?
Die Corona-Pandemie legt die Systemstrukturen, in denen wir uns als Menschheit organisieren, frei, und lässt sie wie vor einem Spiegel deutlich konturierter hervortreten. Dabei wird das Aufklärungsdefizit, das wir im 21. Jahrhundert nach wie vor haben, sichtbar. Wir sehen einerseits Rückschritte, etwa in der Präsidentschaft von Donald Trump, andererseits gibt es moralischen Fortschritt, zum Beispiel bei den Fridays for Future.
An wen richtet sich Ihr Buch?
Es geht mir darum, philosophische Theoriebildung – hier auf dem Gebiet der Ethik – transparent darzustellen. Der philosophische Laie soll sich darüber informieren können, wie der ethische Forschungsstand unsere Gegenwart sieht, wobei das Buch natürlich auch die Absicht verfolgt, die gesellschaftliche Entwicklung in die moralisch wünschbare Richtung zu lenken.
Sie postulieren einen moralischen Realismus, der universale Geltung beansprucht? Würde der auch außerirdische Zivilisationen mit einschließen?
Ja. Im Prinzip gelten moralische Tatsachen für jedes Lebewesen mit vergleichbaren kognitiven Standards, also zum Beispiel auch für Aliens, die es gewohnt wären, andere Planeten zu unterjochen. Auch sie müsste man über die universalen Grundlagen der Moral aufklären, wozu gehört, dass Kolonialismus moralisch verwerflich ist.
Wenn moralische Tatsachen unabhängig von Gott, der Metaphysik und der Evolution existieren, wie Sie schreiben, worin gründen sie dann überhaupt?
Es gibt Tatsachen, die unbestreitbar sind und keiner weiteren Begründung bedürfen, wie etwa, dass man Kinder nicht foltern darf. Die Suche nach Gründen für das moralisch Offensichtliche würde zu nichts führen. Jeder Grund, den man angäbe, würde die Frage nach dem nächsthöheren Grund aufwerfen und so weiter.
In einer Welt von Fake News und Verschwörungstheorien geben meist Werte-Nihilisten und -Relativisten den Ton an. Wie kann es gelingen, dem universalen Ansatz einen argumentativen Vorteil zu verschaffen?
Im postmodernen Medienspektakel gibt es immer ein nihilistisches und relativistisches Hintergrundrauschen. Mir geht es darum, den universalistischen, werterealistischen Ansatz in die Debatte einzuführen. Dazu gehört auch die kritische Beleuchtung der Tradition. Auch Kant, der Vater des kategorischen Imperativs, hatte Gegner – zum Bespiel Herder, der Moralvorstellungen an Kulturen und Völker knüpfte. Und Kant selbst hat ethische Fehler begangen (er glaubte etwa trotz seines Universalismus an Menschenrassen).
Wie könnte moralischer Fortschritt im 21. Jahrhundert gelingen?
Indem wir bei uns selbst anfangen. Es ist eine weit verbreitete Einstellung, moralische Defizite im Fremdverhalten auszumachen. Insofern kann man etwa beim Thema Rassismus nicht mit dem Finger auf die USA zeigen, ohne einzugestehen, dass es auch in Deutschland einen Alltagsrassismus gibt, der gleichwohl andere Erscheinungsformen hat. Wir müssen den Blick auch immer auf uns selbst richten.
Sie behaupten in einer Passage Ihres Buchs, das 21. Jahrhundert sei selbst eine Pandemie. Was heißt das?
„Pan-demie“ stammt aus dem Griechischen und heißt im Wortlaut „alle Völker betreffend“. Weil Kommunikation und Warenwege im 21. Jahrhundert global vernetzt sind, könnte man es in diesem Sinne als Pan-demie bezeichnen. Das bedeutet: Alle Fragen moralischen Fortschritts lassen sich nur global bewältigen. Jeder Rückzug auf das Nationale oder einen Sonderweg erzeugt eine gefährliche Schieflage. Es bringt beispielsweise nichts, wenn in Deutschland Windparks gebaut werden, und gleichzeitig deutsche Unternehmen in China Autofabriken für fossile Fahrzeuge bauen.
Müssen sich Wirtschaft und Konsumverhalten radikal verändern, um das Überleben der Menschheit zu sichern?
Unbedingt. Die ökonomisch-politischen Teilsysteme und das Verhalten jedes einzelnen müssen so miteinander koordiniert werden, dass insgesamt ein moralischer Fortschritt erzielt werden kann. Es kann nicht oberstes Gebot des Staates sein, etwa Betrieben der Fleischindustrie den größtmöglichen Profit zu garantieren. Gleichzeitig sollte der Staat nicht generell den Fleischkonsum verbieten, weil dieser unter bestimmten Bedingungen moralisch vertretbar ist.
Wie gehen Sie damit um, dass viele Menschen einem neuen Aufklärungsprojekt gleichgültig gegenüberstehen?
Das ist natürlich ein ständiger Quell der Depression. Dafür, dass er moralische Tatsachen und die Existenz des Guten in die altgriechische Demokratie eingebracht hat, wurde Sokrates ja sogar hingerichtet. Als Philosoph frage ich mich ständig: Wie schaffe ich es, möglichst viele für den moralischen Fortschritt zu interessieren? Da müsste man schon in der Schule ansetzen: Jedes Kind lernt Rechnen und Schreiben, aber Grundlagen der Ethik werden nicht vermittelt. Das hat auch mit der Randständigkeit der Philosophie in unserer Gesellschaft zu tun. In dieser Hinsicht hat uns Frankreich einiges voraus.
Dieses Interview - das erste über sein neues Buch - erscheint auch leicht gekürzt im Börsenblatt Spezial Sachbuch, das sich unter anderem mit der aktuellen Situation des Sachbuchmarkts und mit Büchern über die Corona-Krise beschäftigt. Das Heft (Börsenblatt 26/2020) erscheint am 25. Juni (auch als E-Paper verfügbar).
Bibliographie:
Markus Gabriel: Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert, Ullstein, 384 S., 22 €, ET: 3.8.2020
Zur Person
Markus Gabriel, geboren 1980, studierte in Bonn, Heidelberg, Lissabon und New York. Seit 2009 hat er den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne und ist dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie. Er ist Direktor des interdisziplinären Center for Science and Thought und regelmäßiger Gastprofessor an der Sorbonne (Paris 1).