Gespräch mit Melanie Möller

"Literatur darf wirklich alles"

29. Mai 2024
von Nicola Bardola

In ihrer Streitschrift "Der entmündigte Leser" (Galiani) wehrt sich die Berliner Professorin Melanie Möller gegen woke Attacken auf die Literatur. Im Gespräch mit Nicola Bardola erläutert sie ihre Positionen zu Versuchen der Umarbeitung, Verkürzung oder Zensur von Büchern.

Melanie Möller, Geschäftsführende Direktorin des Instituts für Griechische und Lateinische Philologie der Freien Universität Berlin

Nicola Bardola: Ihr Buch "Der entmündigte Leser" (Galiani) ist ein Plädoyer für die Freiheit der Literatur, die "Zeit" nennt Sie "Anwältin des Anstößigen in der Kunst". Verstehen Sie Ihre Streitschrift als Prävention, als Warnung vor einer stärker werdenden Cancel Cuture, die bislang noch frei verfügbare Texte zensieren will?

Melanie Möller: In gewisser Weise schon. Auch wenn immer wieder behauptet wird, es gehe doch nur um Kleinigkeiten und die Welle ebbe schon wieder ab, lässt sich eine große Unsicherheit im Ausbildungs- und Kulturbetrieb beobachten. Aus Sorge, etwas "Falsches" zu sagen, bleibt manches unausgesprochen, ungedruckt oder wird überblättert oder beim Lesen ausgelassen: Das kommt den Mechanismen einer verordneten Zensur doch recht nahe.

Nicola Bardola: Sie fordern, Literatur müsse frei sein und wild, sie dürfe böse sein und müsse auch weh tun können, sonst verliere sie ihren Reiz. Sie müsse ein Freiraum bleiben für ungeschützte Gedanken und scharfe Worte. Besteht die Gefahr, dass Ihr Buch durch eine stellenweise Polemik selbst Teil einer erregten Debatte wird?

Melanie Möller: Natürlich – und warum auch nicht? So begrüßenswert Sachlichkeit und Zurückhaltung sind – mir schienen sie in letzter Zeit zu dominieren und in eine verhängnisvolle Übervorsicht einzumünden. Es steht mit der Freiheit der Literatur ja doch einiges auf dem Spiel, daher der polemische, bisweilen erregt anmutende Ton. Außerdem kippte die Sachlichkeit in mancherlei kritischer Einlassung zum Thema Canceln auch schnell in einen aggressiven, geradezu hochnäsigen Ton, meistens in eine bestimmte Richtung: Die bösen Konservativen wollen sich ihre Privilegien nicht nehmen lassen usw. Bei allem 'Engagement' meinerseits verliere ich die Distanz zum Gegenstand und zu mir selbst aber keineswegs aus den Augen – ich bin ja auch Wissenschaftlerin, möchte ich mit einem Augenzwinkern hinzufügen.

Nicola Bardola: Sie sprechen von politisch korrekten "Sprachsäuberern", von "eilfertigen Korrigierern" mit einer herablassenden Haltung gegenüber der Literatur, vom "moralischen Mob", von "toleranzwütigen Solidargemeinschaften". Und nennen viele konkrete Beispiele für Übergriffe auf die Literatur, u.a. das Bibelverbot für Schulen in Utah, die teilweise Zensur oder gar gänzliche Verbannung von Klassikern aus Lehrplänen und Schulbüchern, politisch korrekte Vorgaben für Gegenwartsliteratur, Sensitivity-Reading in Verlagen, glättende Übersetzungen, Triggerwarnungen oder das Verbot "schwieriger" Vokabeln. Wie kommt es, dass ethische Lesarten zurzeit zu dominieren scheinen und ästhetische, soziologische oder literaturwissenschaftliche Lesarten an den Rand gedrängt werden?

Melanie Möller: Das frage ich mich auch immer wieder. Mir scheint ein kleiner, meinungsstarker Teil der Leserschaft schlicht überfordert mit der Freiheit der Lektüre. Es mutet wie eine mehr oder weniger geheime Sehnsucht nach Kontrolle an, die alles Angreifbare – wie berechtigt im Einzelfall das auch immer sein mag – möglichst im Vorhinein aufspürt und aus dem Verkehr zieht oder doch so "durchtriggert", dass es gar keinen Spaß mehr macht, es zu lesen oder zu betrachten. Womöglich soll die Kunst auch als Ersatz herhalten dafür, dass auf der Welt so vieles schief läuft. Eindeutig nicht der richtige Weg.

Womöglich soll die Kunst auch als Ersatz herhalten dafür, dass auf der Welt so vieles schief läuft. Eindeutig nicht der richtige Weg.

Melanie Möller

"Es ist ein Privileg, an der Kunst leiden zu können"

Nicola Bardola: Sie erwähnen das Buch "Canceln. Ein notwendiger Streit" (Hanser, 2023), das dank verschiedener wertneutraler Positionen einen heterogenen Meinungsaustausch darstellen soll, in Wirklichkeit aber der Tendenz zum behutsamen Umgang mit Leserbefindlichkeiten nachgebe. Sie sprechen vom "ketzerischen Beitrag von Johannes Schneider am Ende, der von einer Cancel-Lüge spricht und die Zensur-Kritiker für hysterische Verschwörungstheoretiker hält". Zudem missfällt Ihnen "im gesamten 'kritischen Diskurs' um Eingriffe in Texte der Missbrauch von psychoanalytischem Vokabular auf Seiten der Änderwütigen: Allenthalben ist von möglichen Traumata zu lesen, die Wörter oder Themen bei diesem oder jenem auslösen könnten, und man könnte meinen, man sei fast ausschließlich von Narzissten umgeben, die alles und jeden persönlich nehmen." Wie sehr dringt dadurch ein gesamtgesellschaftliches Problem in den Buchmarkt ein?

Melanie Möller: Das ist ein entscheidender Punkt: Es dringt sehr stark ein, zu stark. Nun könnte man einwenden, es sei doch gut, wenn die Literatur gesellschaftliche Verhältnisse spiegele und umgekehrt, dann könne sie als Korrektiv wirken. Das trifft aber nur sehr eingeschränkt zu: Zwar sind beide Welten durchlässig, aber es zeichnet eben gerade die Kunst aus, dass sie frei bleibt, keine Rücksicht auf keinerlei Befindlichkeit nehmen muss, was im Leben zweifelsohne notwendig ist, sonst funktioniert eine soziale Gesellschaft nicht. Die Kunst ist allenfalls Korrektiv als Freiraum, indem sie also gerade alles zulässt – auf keinen Fall dient sie der Kollektivtherapie, weil einzelne an ihr leiden mögen. Das ist doch tatsächlich ein Privileg, an der Kunst leiden zu können, daran sollte man unbedingt festhalten. Vielleicht trägt es ja am Ende doch dazu bei, dass jeder sich selbst und seine vermeinten Neurosen nicht zu hoch hängt.

Nicola Bardola: Sie beschäftigen sich auch mit der Suche nach geeigneten Übersetzerinnen der Inaugurationslyrik von Amanda Gorman und schreiben: "Am Ende hätte Frau Gorman sich wohl nur selbst übersetzen dürfen, um jegliche Anmutung von kultureller Aneignung zu vermeiden." Mit Blick auf Theater und Film fügen Sie an: "Darf demnächst nur noch jeder sich selbst übersetzen, spielen, interpretieren – keine Weiße eine Schwarze, kein Dicker einen Dünnen, kein Bebrillter einen Vollsichtigen, kein Tauber einen Stummen, keine Blonde eine Brünette? Was ist hier los? Wohin soll das führen?" Ist in diesen Fragen der Sensibilitätszenit überschritten? Kehren wir zurück zur Vernunft?

Melanie Möller: Das kann ich nur hoffen! Es ist geradezu albern geworden, weil man offensichtlich vergessen hat, dass Kunst zuallererst im Rollenspiel besteht. Ob die Rückkehr zur Vernunft allein reicht, weiß ich wiederum nicht. Zuletzt wurde ja auch von "Cancel-Gegnern" (um es etwas vereinfacht auszudrücken, ich halte es sonst gar nicht so mit Schwarzweißmalerei) die Vernunft beschworen, allerdings verknüpft mit der Bitte, die Dinge radikal zu vereinfachen, damit sie möglichst jedem – und jeder – einleuchteten. Das scheint mir auch an der Sache vorbeizugehen – die Dinge der Kunst sind so komplex wie ihre Formen und dürfen es auch bleiben, und es geht ja vor allem um ästhetische Erfahrung, auch wenn diese Junktur manch einem überholt vorkommen mag – sie ist es ganz und gar nicht und mindestens ein wichtiges Komplement zur Vernunft. Ich lese gerade Paul Feyerabend, der hätte dazu wohl auch einiges zu sagen – jedenfalls muss auch und gerade das Irrationale in der Kunst und in der Beschäftigung mit ihr seinen Platz haben.

Ein Überlegenheitsgefühl aus der eigenen Zeit heraus

Nicola Bardola: "In meinem Buch gibt es keine Auslassungsstriche und keine Sterne, sondern nur männliche oder weibliche Formen, wo grammatisch und sachlich geboten – den Rest überlasse ich den mündigen Lesern", schreiben Sie zum Thema "Genderwahn". Das Börsenblatt gendert für seine "Leser:innen". Was raten Sie uns?

Melanie Möller: Ich würde Ihnen – in meiner ganz persönlichen Rolle – gerne davon abraten. Zumal so viel sinnlos und falsch herumgegendert wird, vor allem greifen Formen um sich, die Frauen wieder unsichtbar werden lassen hinter all den Sonderzeichen oder Morgensternchen, eine Folge, die mich tatsächlich sehr erbost. Wichtig ist aber, dass jeder nur solche Formen benutzt, die der eigenen Überzeugung entsprechen, und sich da nichts vorschreiben lässt. Solche Formen kommen ja auch gerne im schmuddeligen Gewand der wohlmeinenden Empfehlung daher, entfalten aber ähnlich fatale Wirkungen wie offizielle Ge- oder Verbote. Seltsam (vielleicht aber auch typisch patriarchalisch) bleibt, dass man den Wunsch gerade vieler Frauen ignoriert, nicht angegendert zu werden. Vor allem Chauvinisten im Schafspelz entpuppen sich hier als 'falsche Freunde'. Wir Frauen zumal benötigen deren Unterstützung nicht, um uns hinreichend angesprochen zu fühlen, auch von unzulänglich als "männlich" bezeichneten Anreden.

Ich würde vom Gendern abraten. Zumal so viel sinnlos und falsch herumgegendert wird, vor allem greifen Formen um sich, die Frauen wieder unsichtbar werden lassen hinter all den Sonderzeichen oder Morgensternchen, eine Folge, die mich tatsächlich sehr erbost. Wichtig ist aber, dass jeder nur solche Formen benutzt, die der eigenen Überzeugung entsprechen, und sich da nichts vorschreiben lässt.

Melanie Möller

Nicola Bardola: Sie untersuchen die Argumente der "Verteidiger der Kunstfreiheit, die sich vor den radikalen Zuspitzungen der jüngsten Zeit gruseln" sehr kritisch. Diese wichen allzu schnell in den Modus der Verteidigung aus. Kunst müsse frei bleiben, man müsse sie eben in ihrem historischen Kontext verorten, ggf. mit kleinen erläuternden Hinweisen versehen oder aber für sich selbst sprechen lassen: So werde sie sich und ihre Verfasser – auch wohl ihre unkritischen Leser – schon selbst entlarven, und das funktioniere allemal besser, wenn man sie nicht nachträglich manipuliere. Sie fragen daher, ob dahinter nicht die gleiche problematische Haltung wie bei den Cancellern stecke, ob nicht auch hier, nur eben im Namen der Freiheit, von einem hohen moralischen Ross herab gesprochen werde, ganz so, als ob die Gegenwart "besser" wäre. Und Sie fragen, ob nicht auch hier der Leser der Gegenwart vorsorglich "entmündigt", derjenige der Vergangenheit an den Pranger der Unaufgeklärtheit gestellt werde. Also argumentieren beide Lager falsch, sowohl die Änderwütigen als auch die Verteidiger der Freiheit?

Melanie Möller: Im Grunde ja. Natürlich ist die historische, auch historisch-kritische, Argumentation besser, weil sie sachlich begründet und das Moralische unterordnet. Dennoch weicht sie häufig in den Modus der Verteidigung und Bewertung aus, nach dem Motto: Die einfältigen Leutchen damals wussten es halt nicht besser, also seien wir großzügig und sehen wir es ihnen nach, indem wir eine erläuternde Klausel beigeben, um uns deutlich genug von deren Haltung, und sei es nur eine in der Sprachwahl verbürgte, zu distanzieren. Das finde ich ziemlich mutlos, um es euphemistisch auszudrücken.

"Es gibt keinen einheitlichen 'weiblichen Blick'"

Nicola Bardola: Sie zitieren die Altphilologin Katharina Wesselmann, die 2021 "Die abgetrennte Zunge. Sex und Macht in der Antike neu lesen" (Theiss) veröffentlicht hat. Warum scheinen Wissenschaftlerinnen im Bereich der Klassischen Philologie besonders prädestiniert, sich "nach dem Perspektivwechsel durch #MeToo" mit "unangenehmen neuen Realitäten" (Wesselmann) auseinanderzusetzen?

Melanie Möller: Ich verstehe überhaupt nicht, was mit diesen "unangenehmen neuen Realitäten" gemeint ist. Es war ja schon immer alles voller Unannehmlichkeiten, jedenfalls gab es immer Leute, die das so empfanden und artikuliert haben, wenn auch nicht so massiv und fokussiert wie heute. Auch die Zuschreibung als "neu" verrät wieder ein unpassendes Überlegenheitsgefühl aus der eigenen als aufgeklärt aufgefassten Zeit heraus. Texte aus der Antike sind natürlich voller Unkorrektheiten nach dem selbstverliebten Maß der Jetzt-Zeit, deshalb bieten sie sich besonders zur Diskussion an bzw. fordern ihre Deuter heraus. Ungünstig, wenn diese dann erstmal selbst lautstark ihre Gegenstände anprangern, bevor sie zu einer handzahmen Verteidigung ansetzen. Nach den eigenen Maßstäben müssten sie sich nämlich selbst abschaffen, das wollen sie auch nicht, sie können ja nichts anderes. Also wollen sie sich und ihre Texte "in die Gesellschaft einbringen", nachdem sie Buße getan haben.

Nicola Bardola: Die Altphilologinnen Arum Park und Sara Hale beschäftigen sich in "Teaching Classics in Times of #MeToo" mit Neuinterpretationen antiker Texte. Jahrhundertelang existierte fast nur die männliche Perspektive auf die altgriechische und lateinische Literatur, die ja hauptsächlich von Männern geschrieben wurde. Wesselmann spricht daher von "doppelter Maskulinisierung", mit der "Verharmlosung und Billigung von sexueller Gewalt" einherging. Wie positionieren Sie sich mit Ihrer Streitschrift in diesen Auseinandersetzungen um einen weiblichen Blick auf die von Zensur gefährdeten Texte?

Melanie Möller: Was sollte dieser "weibliche Blick" denn sein? Das unterstellt ja, dass es einen mehr oder weniger einheitlichen gäbe, und das halte ich für Unsinn – Gleiches gilt für den sogenannten "männlichen Blick". Blicke können unabhängig vom Geschlecht sehr unterschiedlich sein. Der zuletzt eingeforderte "weibliche Blick" scheint vor allem der eines Opfers zu sein, und das stört mich massiv, denn das ist nur eine Perspektive von vielen. Weibliche Blicke können gerade beim Thema Sexualität und Gewalt sehr – mit Verlaub – männlich werden und umgekehrt. Das wollen offenbar die Meinungsstarken unserer Tage nicht wahrhaben (sie müssten gar nicht in der Kunst verbleiben, sondern könnten sich auch in der Gesellschaft umschauen, um dies zu erkennen). Ich will nicht, dass nur ein bestimmter, vergleichsweise braver, passiver, moralisch untadeliger Typ Frau hinter diesem "weiblichen Blick" versammelt und gegen den männlichen ausgespielt wird, das vereinfacht die Dinge in holzschnittartiger Weise. Frauen, Männer, alle können alles lesen und damit für sich anfangen, was sie wollen. Sie können sich empören und leiden oder Gefallen an entgrenzten Obszönitäten finden, sie können indifferent bleiben oder ihr Privatleben danach gestalten – nur sollen sie bitte nicht die Öffentlichkeit mit ihren Befindlichkeiten langweilen.

"Das Verbotene beflügelt das Interesse und steigert die Verkaufszahlen"

Nicola Bardola: Sind das Verwässern und das Verbieten literarischer Werke in den vergangenen Jahrhunderten und bis heute nicht immer auch regionale und vorübergehende Erscheinungen?
Melanie Möller: Ja, meistens schon. Aber diesmal reichen die Kreise weiter, deshalb halte ich das bisweilen verspottete Prinzip des "Wehre(t) den Anfängen" ("principiis obsta", ein bisschen Latein muss sein) für geboten.

Nicola Bardola: Ich denke beispielsweise an das 20. Jahrhundert, an D. H. Lawrence ("Lady Chatterley", 1928), an Henry Miller ("Tropic of Cancer", 1934), an Vladimir Nabokov ("Lolita", 1955) oder an Allen Ginsberg ("Howl", 1956): Diese vier bedeutenden Beispiele sparen Sie aus. Aber machen nicht gerade diese Werke deutlich, dass versuchte Publikationsverbote mithin die beste Werbung für skandalträchtige Literatur sind? Und werden viele dieser Bücher nicht einige Zeit später aufgrund u.a. juristischer Auseinandersetzungen zu gänzlich unzensierten Bestsellern, ja zu modernen Klassikern?

Melanie Möller: Ja, ich spare einiges aus, es ist ja ein kursorischer Ritt durch die Jahrhunderte mit heuristischem Zuschnitt; es hätte noch so viele weitere schlagende Beispiele gegeben. Und Sie haben ganz recht, das Verbotene beflügelt das Interesse und steigert die Verkaufszahlen, so ist es auch jetzt, habe ich mir sagen lassen, zum Beispiel bei Wolfgang Koeppens "Tauben im Gras". Dennoch sollte man nicht darauf bauen. Außerdem sollen doch alle die Chance haben, das Verpönte in einem Text zu lesen, nicht nur die, die den Mut haben, sich dezidiert an Verbotenem zu erfreuen.

Nicola Bardola: Sie schreiben: "Was fehlt, ist ein leidenschaftlicher Kampf für die Autonomie der Literatur, der diese schützt wie eine bedrohte Minderheit – und zwar kompromisslos." Und weiter: "Also bitte gar keine Kompromisse, keine Änderungen an den Texten, schon gar nicht bei toten Autoren, die sich nicht wehren können. Wer etwas nicht lesen möchte, darf es gerne lassen oder entsprechend kommentieren." Also darf Literatur wirklich alles?

Melanie Möller: Ja, Literatur darf wirklich alles. Sicher gibt es Grenzfälle, wo es politisch heikel wird, nämlich allzu ideologisch, oder wo lebende Personen namentlich verunglimpft werden etc. – dafür gibt es ja juristische Wege, und das ist sicher auch ganz gut so. Die Gratwanderung muss eben jedes Mal aufs Neue abgeschritten werden, es lohnt sich, wenn dafür das große Ganze frei bleiben kann.

Nicola Bardola: Sie bezeichnen ihre Streitschrift u.a. als "genuin philologisch-literaturwissenschaftliche" Erweiterung von primär philosophisch und politisch motivierten Einsichten. "Ein weiterer, vielleicht der Schlüssel zur Lösung könnte tatsächlich in sprachlicher Reflexion und Präzision liegen, denn Sprache kann nach wie vor wesentliche Macht entfalten." Woher könnte dieser Schlüssel zur Lösung, diese sprachliche Präzision kommen?

Melanie Möller: Es ist in letzter Zeit viel auf sprachliche Sensibilität und Diversität gepocht worden, dabei hat man das Gegenteil erreicht: Sprache ist beschnitten, verengt, verwässert und verallgemeinert worden. Sprache ist aber ungemein reich, jeder darf sie nach seinen Mitteln voll ausschöpfen, um Phänomene oder Erfahrungen möglichst differenziert zu beschreiben. Es gibt so unglaublich viele Nuancen, die es auszuloten gilt. Wer mag, kann die Dinge auch radikal vereinfachen, wer mag, kann plakativ und grobschlächtig vorgehen – in der Literatur. Diejenigen, die sie beschreiben, die Literaturwissenschaftler, die jedoch sollten sich um einen genauen, behutsamen Umgang mit der Sprache bemühen – und behutsam meine ich ausschließlich im philologisch-ästhetischen, keinesfalls im moralischen Sinn.