Nicola Bardola: Sie untersuchen die Argumente der "Verteidiger der Kunstfreiheit, die sich vor den radikalen Zuspitzungen der jüngsten Zeit gruseln" sehr kritisch. Diese wichen allzu schnell in den Modus der Verteidigung aus. Kunst müsse frei bleiben, man müsse sie eben in ihrem historischen Kontext verorten, ggf. mit kleinen erläuternden Hinweisen versehen oder aber für sich selbst sprechen lassen: So werde sie sich und ihre Verfasser – auch wohl ihre unkritischen Leser – schon selbst entlarven, und das funktioniere allemal besser, wenn man sie nicht nachträglich manipuliere. Sie fragen daher, ob dahinter nicht die gleiche problematische Haltung wie bei den Cancellern stecke, ob nicht auch hier, nur eben im Namen der Freiheit, von einem hohen moralischen Ross herab gesprochen werde, ganz so, als ob die Gegenwart "besser" wäre. Und Sie fragen, ob nicht auch hier der Leser der Gegenwart vorsorglich "entmündigt", derjenige der Vergangenheit an den Pranger der Unaufgeklärtheit gestellt werde. Also argumentieren beide Lager falsch, sowohl die Änderwütigen als auch die Verteidiger der Freiheit?
Melanie Möller: Im Grunde ja. Natürlich ist die historische, auch historisch-kritische, Argumentation besser, weil sie sachlich begründet und das Moralische unterordnet. Dennoch weicht sie häufig in den Modus der Verteidigung und Bewertung aus, nach dem Motto: Die einfältigen Leutchen damals wussten es halt nicht besser, also seien wir großzügig und sehen wir es ihnen nach, indem wir eine erläuternde Klausel beigeben, um uns deutlich genug von deren Haltung, und sei es nur eine in der Sprachwahl verbürgte, zu distanzieren. Das finde ich ziemlich mutlos, um es euphemistisch auszudrücken.