LGBQT: Debatte um Märchenbuch

Kinderbuch-Lektor flüchtet aus Ungarn

14. Juli 2021
Redaktion Börsenblatt

Eine Abgeordnete im Parlament schreddert öffentlich ein Märchenbuch, der Lektor erhält Morddrohungen: Jetzt hat sich Boldizsár Nagy entschlossen, Ungarn zu verlassen.

Das Magazin "Heti Világgazdaság" zitiert Nagy, dass er wegen seiner Arbeit Morddrohungen erhalten habe. Der Umzug erfolge vor allem aus politischen Gründen, "weil wir uns zu Hause nicht sicher fühlen. Aber wir wollen die Arbeit, die wir hier tun, fortsetzen, nur nicht unbedingt in Ungarn. Es ist nicht so, dass wir eingeschüchtert sind, wir wollen nur physisch woanders sein", sagte Nagy der Zeitung. Er und sein Lebenspartner hätten auch gerne ein Kind adoptieren wollten, aber als sich herausstellte, dass sie nicht die Möglichkeit dazu bekommen würden, hielten sie es nicht mehr für sinnvoll zu bleiben. Der Lektor und Übersetzer befürchtet, dass sich ungarische Verlage nicht mehr trauen, Bücher für Minderjährige zu veröffentlichen, die LGBTQ-Themen enthalten.

Das Kinderbuch öffentlich zerrissen

"Meseország mindenkié" ("Das Märchenland gehört allen") enthält 17 Märchen, die von in Ungarn bekannten Autoren wie Judit B. Tóth, Zoltán Csehy, Petra Finy und Dóra Gemesi um- oder neu geschrieben wurden. Die Figuren machen auf die Notlage von Minderheiten in der ungarischen Gesellschaft aufmerksam, etwa das schwule Aschenputtel und die Roma Petty Panna, sie sprechen aber auch Themen wie extreme Armut, häusliche Gewalt und Adoption an. Das sensibilisierende Märchenbuch war 2020 Gegenstand einer wochenlangen Debatte, nachdem die Parlamentsabgeordnete Dóra Dúró vor den Fernsehkameras ein Exemplar des Buchs zerrissen hatte, es als homosexuelle Propaganda bezeichnet und sich wiederholt darüber empört hatte. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban äußerte sich damals billigend über diese TV-Aktion. Die Ungarische Vereinigung der Buchverleger und -händler (MKKE)  verurteilte daraufhin, dass "eine Abgeordnete des ungarischen Parlaments ein Buch öffentlich zerstört – einfach weil sie mit dessen Inhalt nicht einverstanden ist." Auch wenn es für Politiker durchaus legitim sei, Bücher zu kritisieren: "Die Zerstörung von Büchern für politische Zwecke gehört zu den beschämendsten geschichtlichen Erinnerungen in Ungarn und Europa."

Aufgrund der Debatte entwickelte sich das am 20. September in Ungarn im Eigenverlag von "Labrisz", einer Interessenvertretung für Lesben in Ungarn, herausgegebene Märchenbuch zu einem Bestseller. Zunächst in einer Auflage von 2.000 Exemplaren gedruckt, waren bereits Anfang Dezember 2020 16.000 Exemplare verkauft. Im Frühjahr gehörte es dann zu den meistverkauften Büchern in Ungarn.

In diesem Jahr wurde das Thema in größerem Umfang aufgegriffen, als das Pädophilengesetz so geändert wurde, dass seit 1. Juli die "Förderung" von Homosexualität in Schulen verboten und die "Darstellung" von LGBTQ-Inhalten in den Medien deutlich eingeschränkt wird.