Die Geschichten von "Leo und Lucy" – im Juni erscheint der dritte Band bei Carlsen – spielen in einem Hochhaus, und die Familien befinden sich nicht gerade auf der Sonnenseite des Lebens. Was macht den erzählerischen Reiz aus, in diesem Umfeld Geschichten zu entwickeln?
Da war nicht dieser Gedanke, "Ich erfinde jetzt mal eine Geschichte über Kinderarmut und alle möglichen anderen schwierigen Themen, die in einem fünfzehnstöckigen Hochhaus in Köln-Chorweiler spielt." Leos Lebenswelt und sein Universum entstand aus der Figur heraus. Ein Junge, der unbedingt sein Schrottboard vom Sperrmüll durch das XW90 ersetzen will, damit er den Skater-Wettbewerb gewinnen und mit dem Preisgeld seiner besten Freundin einen neuen Rollstuhl kaufen kann. Dass er Lego-Stein-Tiger, Leos Wort für Legastheniker, ist, und er das Skateboard ausgerechnet beim Vorlese-Wettbewerb der Schule gewinnen muss, bringt natürlich noch mehr Drama in die Geschichte. Grundsätzlich ist es mir aber sehr wichtig, dass Leser:innen aus allen möglichen Lebenswelten sich in meinen Büchern wiederfinden, mit ihren Wünschen, ihren Ängsten, mit den Dingen, die sie nicht so gut können und wo sie vielleicht auch auf die Unterstützung von anderen Menschen angewiesen sind.
Wie vermeidet man es, nicht in den Ruch von Klassismus zu geraten, wenn man über von Armut betroffene Menschen erzählt?
Da ist wirklich eine große Verantwortung, die ich beim Schreiben spüre, und immer ein Drahtseilakt. Doch die Alternative, nur und ausschließlich über Figuren zu schreiben, die in einer "Bilderbuchfamilie" (was immer man darunter versteht) in gut situierten Verhältnissen aufwachsen, kommt für mich eben auch nicht in Frage. Beim Schreiben versuche ich, dem durch Recherche gerecht zu werden, und ich habe Kinder vor Augen, denen ich bei meiner langjährigen Arbeit im sozialen Bereich begegnet bin. Aber vor allem gehe ich beim Schreiben ganz tief in mich und versuche, dem Kind in mir Raum und eine Stimme zu geben. Ich war zwar nie ein zwölfjähriger Junge und bin auch nicht in prekären Verhältnissen aufgewachsen. Aber in meinem Leben gibt und gab es trotzdem immer schon Themen, die in Leos Universum anklingen. Und daraus schöpfe ich.
Welche Erfahrungen machen Sie mit den zuhörenden Kindern, wie nehmen die die Geschichten von Leo und Lucy wahr?
Tatsächlich erlebe ich bei den Lesungen immer eine große Offenheit und Mitgefühl der Zuhörer:innen für Leos Welt, seine Ängste, seine Nöte und auch für seinen Humor. Die Kinder äußern sich immer zu ganz unterschiedlichen Ebenen des Buches. Die einen haben großen Verständnis für Leos Angst vor dem lauten Vorlesen zum Beispiel und vor dem Ausgegrenzt-Werden. Die anderen rätseln mit, wie Leo das XW90 bekommen könnte, vielleicht weil sie selbst leidenschaftliche Skater sind. Andere sind wie Leo Spezialist:innen in Sachen Weltraum und Schwarze Löcher.
Insgesamt gibt es im Kinderbuch den Trend zu mehr gesellschaftspolitischen Themen wie. Umwelt, Mobbing, der Umgang mit der Großelterngeneration. Gehört dazu die Auseinandersetzung mit dem ärmeren Teil der Gesellschaft?
Dieses Thema gehört meiner Meinung nach auf jeden Fall ins Kinderbuch, weil Kinder ja davon betroffen sind. Oft ohne zu wissen, dass dies nicht selbstverschuldet, sondern ein strukturelles und gesamtgesellschaftliches Problem ist. Ich bin Schriftstellerin und für mich ist es wichtig, auch schwierigere Lebenswelten abzubilden, wenn das die Welt der Figuren ist. Ich bin nicht so naiv zu denken, dass damit auch nur einem Kind aus der Armut herausgeholfen wäre. Aber ich habe die Hoffnung, dass Kinder aus dieser Lebensrealität Leos oder ähnliche Geschichten lesen und hören.