AG "Karl May vermitteln"

"Eine kritische Reflexion kolonialer Muster und Ressentiments"

24. Juli 2023
Redaktion Börsenblatt

Im Zuge der Kontroverse über die Bewertung Karl Mays und seiner Winnetou-Figur aus der Perspektive postkolonialer Diskurse initiierten die Karl-May-Stiftung und die Karl-May-Gesellschaft die Arbeitsgemeinschaft "Karl May vermitteln". In einer Stellungnahme regen sie eine differenzierte Betrachtung des Schriftstellers an.

Seit November 2022 berieten Repräsentant:innen der mit Karl May befassten Institutionen sowie Exper:tinnen aus Wissenschaft und Kultur in Radebeul; beratend hinzugezogen wurden  Angehörige der Navajo Nation und der Curve Lake First Nation aus dem Bereich der Bildungs- und Kulturarbeit sowie Vertreter:innen der Landesbühnen Sachsen. Im März 2023 veranstalteten die Karl-May-Stiftung und die Karl-May-Gesellschaft mit der Universität Potsdam ein dreitägiges interdisziplinäres Symposium zum Thema " Kulturelle Repräsentationen im Werk Karl Mays im Brennpunkt aktueller Diskurse ".

Die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft ›"Karl May vermitteln" haben sich auf folgende Position verständigt :

May prangert Genozid an indigenen Menschen Nordamerikas an

"Als Mitgestalter der Rezeptionsgeschichte des meistgelesenen Autors deutscher Sprache sind wir uns, vor allem im Hinblick auf seine bis heute einflussreiche Auseinandersetzung mit fremden Kulturen, einer besonderen Verantwortung bewusst und erkennen die Notwendigkeit, sensibel und kritisch mit diesem Erbe umzugehen. Wir unterstützen die Aufarbeitung kolonialer Unrechtsstrukturen und ihres Fortwirkens bis in die Gegenwart, begrüßen die Teilhabe der von europäischem Unrecht Betroffenen am öffentlichen Diskurs und suchen den Dialog mit der Wissenschaft und anderen gesellschaftlichen Kräften.

In dieser Diskussion erscheint uns eine differenzierte Betrachtung des Menschen und Schriftstellers Karl May auf der Grundlage der aktuellen Forschung unabdingbar. Die Reduktion Mays auf einen Produzenten stereotyper und trivialer AbenteuerFantasien wird der Komplexität seines umfangreichen Gesamtwerks nicht gerecht. Karl May war unvermeidlich in der Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts verhaftet: Er akzeptierte und reproduzierte die Normen und Pauschalisierungen seiner Zeit, darunter auch koloniale Muster, die heute mit Recht als problematisch empfunden werden. Seine Darstellung des Fremden basierte auf den damals in deutscher Sprache verfügbaren Quellen und bediente die Erwartungen seiner damaligen Leserschaft, wobei er Bilder von großer Suggestionskraft produzierte.

Gleichzeitig reflektierte er als Ergebnis autodidaktischer Studien in zunehmendem Maße rassistische Vorurteile, imperialistisches Hegemoniedenken und religiöse Intoleranz. Sein anspruchsvolles Spätwerk ist der Vision eines universellen Weltfriedens auf der Grundlage einer respektvollen interkulturellen Verständigung gewidmet. Diese Haltung lässt sich bereits in seinen populären Abenteuererzählungen nachweisen, wo die Solidarisierung mit den Opfern von Unrecht und Gewalt sowie die Aufwertung marginalisierter Bevölkerungsgruppen im Vordergrund stehen. Besonders eindringlich prangern seine Romane den Genozid an den Ureinwohnern Amerikas und das Verbrechen der Sklaverei an. Ein explizit verletzender und rassistischer Sprachgebrauch ist bei ihm Kennzeichen moralisch fragwürdiger Figuren, deren Haltung ausnahmslos durch den Gang der Ereignisse widerlegt wird.

Kritische Reflexion kolonialer Muster anregen

Ungewöhnlich an Mays Texten ist die häufige Thematisierung von Behinderungen und nicht-binären geschlechtlichen Identitäten innerhalb der Gruppe der Protagonisten. Hierin spiegeln sich die persönlichen Erfahrungen des Autors, der sowohl als Kind einer armen Weberfamilie als auch im Alter nach dem Bekanntwerden seiner Vorstrafen selbst sozialer Diskriminierung ausgesetzt war.

Aufgrund ihrer spezifischen künstlerischen Ambivalenz halten wir die epischen Werke Karl Mays, in ihrer originalen Gestalt ebenso wie in medialen Weiterentwicklungen, für besonders geeignet, eine kritische Reflexion kolonialer Muster und Ressentiments anzuregen. Als Zeugnisse deutscher Identitätsstiftung illustrieren sie eine bis heute nachwirkende Phase europäischer Mentalitätsgeschichte: Karl Mays Wilder Westen und Karl Mays Orient entspringen zwar einem genuinen Interesse für das Fremde, verdanken jedoch ihre literarische Ausformung den eigenen Bedürfnissen und Bestrebungen des Autors. Die Beschäftigung mit Projektionsfiguren wie dem Apachen Winnetou, dem Beduinen Hadschi Halef Omar und der Kurdin Marah Durimeh ist für europäische Leserinnen und Leser letztlich auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen kulturellen Identität.

Besonderes didaktisches Potenzial

Darüber hinaus belegen zahlreiche Aussagen, dass Mays erzählerischer Kosmos vor allem in jungen Menschen Interesse und Wertschätzung für die Traditionen, Sprachen und Religionen anderer Kulturen zu wecken vermag. Wir bemühen uns daher, die Faszination, die von Karl May ausgeht, verstärkt auf die Beschäftigung mit der historischen und heutigen Realität der im Werk fiktional repräsentierten Kulturen zu lenken. In diesem Spannungsverhältnis von Fiktion und Realität, das im Rollenspiel seiner Biographie wiederkehrt, erkennen wir ein besonderes didaktisches Potential. Hinzu kommen zeitlose pädagogisch relevante Handlungsmotive wie Freundschaft, Einsatz für Freiheit, Konfliktbewältigung, Bewährung in Anfechtungen und im Widerstreit von Gut und Böse.

Wir bekräftigen in diesem Zusammenhang die Unantastbarkeit der Freiheit von Wissenschaft und Kunst und halten es für grundsätzlich falsch, historisch gewachsene Elemente der Kultur mittels einer rückwirkenden Umbewertung aus dem öffentlichen Diskurs oder dem Bildungssystem auszuschließen. Diese Freiheit schließt für uns die Verpflichtung ein, mit besonderer Empathie die Wirkung europäischer Äußerungen auf Angehörige von Kulturen zu berücksichtigen, die unter europäischem Denken und Handeln gelitten haben oder leiden. Im Rahmen unserer jeweiligen Aktivitäten, Veranstaltungen und Publikationen arbeiten wir auf eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit für diese Problematik hin und suchen die Perspektiven außereuropäischer Kulturgemeinschaften angemessen zu integrieren. Damit verbinden wir die Hoffnung, dass im Umfeld der Karl-May-Institutionen Räume für kulturelle Begegnungen entstehen, die von Offenheit und Respekt bestimmt sind und zu wechselseitiger kultureller Bereicherung führen."