Kanon-Verleger Gunnar Cynybulk zur Kritik an "Mildred"

„Ein Bericht, der Mildred Harnacks Lebensleistung einmal mehr herabstuft“

19. September 2022
Redaktion Börsenblatt

In einem Spiegel-Artikel attestiert der Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Johannes Tuchel der Autorin Rebecca Donner fehlerhafte Quellenarbeit in der Biografie über ihre Urgroßtante, die amerikanische Widerstandskämpferin Mildred Harnack. Zwar sei sie eine sehr wichtige Person der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ gewesen, ihre Rolle für den Deutschen Widerstand sollte jedoch nicht überhöht werden. Donners deutscher Verleger Gunnar Cynybulk (Kanon) verteidigt seine Autorin in einer Stellungnahme. 

Folgende Kritikpunkte führt Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, im Spiegel-Artikel „Reine Fantasie“ von Jasmin Lörchner und Martin Pfaffenzeller unter anderem an (Heft 38):

  • Donner habe einen Urlaub im September 1942 als konkreten Fluchtplan dargestellt, wofür es keine Belege gebe.
  • Sie würde die Geschichte des Widerstands umschreiben: „Sie attestiert Harnack eine weit größere Rolle, als sie laut der einschlägigen Forschung hatte“, so das Spiegel-Autorenduo. Genau dies kritisiert Donner wiederum an der Forschung und sagt, dass auch ihre eigene Familie, weil man nicht mit Kommunisten in Verbindung gebracht werden wollte, im Kalten Krieg an der Auslöschung von Mildreds Widerstand beigetragen habe.
  • Donner vermittele den Eindruck, dass man sich in den dreißiger Jahren zu einem "gewaltigen Anti-Hitler-Netzwerk" zusammengeschlossen wurde. Laut Tuchel habe ihr Netzwerk damals höchstens aus 20 Menschen bestanden, erst nach Kriegsbeginn sei das Netzwerk gewachsen.
  • Außerdem bediene sie sich laut Tuchel mangelhafter bzw. zweifelhafter Quellen – unter anderem Angaben von Gestapo-Beamten aus US-Geheimdienstberichten oder Zeitzeugenberichten, die siebzig Jahre nach den Ereignissen entstanden.

Der Artikel ist parallel auch auf Spiegel Online hinter einer Bezahlschranke zu finden: Wie viel Dichtung verträgt ein historisches Sachbuch?

Kanon-Verleger Gunnar Cynybulk nimmt Stellung:

In seinem aktuellen Heft (38/2022) berichtet der Spiegel über das soeben im Kanon Verlag erschienene Buch unserer Autorin Rebecca Donner „Mildred. Die Geschichte der Mildred Harnack und ihres leidenschaftlichen Widerstands gegen Hitler“. Darin werfen die Autor:innen unter Berufung auf den Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Johannes Tuchel, Rebecca Donner einen fehlerhaften Umgang mit Fakten vor. Leider leistet der Artikel einer Perspektive Vorschub, die zu korrigieren höchste Zeit ist. Und leider enthält er selbst eine Reihe von Fehlern und Unterstellungen.

So ist etwa folgende Behauptung falsch, die hier stellvertretend angeführt sei: "Im Anhang nennt Donner als Beleg für das angebliche Wachstum der Gruppe die Zahl von fast 900 Widerständigen um die Harnacks und Schulze-Boysens im Jahr 1940." An keiner Stelle im Buch schreibt Rebecca Donner, dass 900 Widerständige in der Gruppe waren. Die Zahl, die sie nennt, ist 119 (S. 425 u. S. 573). Durch eine transparente Kommunikation mit Verlag und Autorin hätte dies vermieden werden können. Aus dem Zusammenhang gelöste Zitate wurden nicht zur Freigabe gezeigt, weitere Richtigstellungen nicht ermöglicht. So entstand ein Bericht, der nicht nur die zehn Jahre währende Forschungsarbeit unserer Autorin abschätzig behandelt, sondern der auch die Lebensleistung der Widerstandskämpferin und Frau Mildred Harnack einmal mehr herabstuft. Für ihr u.a. mit dem PEN Award for Biography und dem National Book Critics Circle Award for Biography ausgezeichnetes und mit umfangreichem Anmerkungsapparat versehenes Buch hat Rebecca Donner sowohl mit der aktuellen Forschungsliteratur gearbeitet als auch neue Quellen wie Zeitzeug:innen-Erinnerungen, Tagebücher und Briefe erstmals erschlossen, die der Gedenkstätte Deutscher Widerstand nicht vorliegen. Was dem Leiter der GDW seit langem vorliegt, ist die englischsprachige Originalausgabe von Rebecca Donners Buch. Es hätte guter akademischer, kollegialer Praxis entsprochen, wenn er seine Einwände spezifiziert und mit Rebecca Donner direkt diskutiert hätte.

Frauen wie Mildred Harnack waren mehr als die Schatten ihrer Ehemänner. Wie Rebecca Donner in ihrem konzis formulierten Buch nachweist, beteiligten sie sich aktiv am Widerstand gegen das NS-Regime. Frauen wie Mildred Harnack sollten auch die Subjekte der akademischen Forschung sein, immerhin riskierten und verloren viele von ihnen ihr Leben. Es ist an der Zeit, sie gebührend zu würdigen. Rebecca Donner tut dies in ihrem persönlichen und integren Buch über ihre Urgroßtante Mildred Harnack, deren 120. Geburtstag wir anders begehen wollen als bisher: angemessen.

Gunnar Cynybulk
Verleger