Ehrengast Italien stellt Programm vor

Wirbel in Italien wegen Nicht-Berücksichtigung von Roberto Saviano

31. Mai 2024
Matthias Glatthor

Mehr als 100 Autor:innen und zahlreiche Konzerte aus Italien werden für die Frankfurter Buchmesse 2024 erwartet. Vorgestellt wurden sie am 28. Mai auf einer Pressekonferenz im Literaturhaus Frankfurt – ein Name wurde auf der offiziellen Liste vermisst: Roberto Saviano. Das führte zu scharfer Kritik in den italienischen Medien, eingeladene Autor:innen drohten offenbar mit ihrer Absage. Als Reaktion darauf, bittet AIE-Präsident Cipolletta alle eingeladenen Autor:innen, nach Frankfurt zu kommen.

Einblick in den Ehrengastpavillon Italiens 2024

Das Motto des diesjährigen Gastlandes Italiens - Verwurzelt in der Zukunft

Am Motto "Verwurzelt in der Zukunft" des Ehrengast-Auftritts gefalle ihm "der Blick nach vorn", so Juergen Boos, Direktor der Frankfurter Buchmesse, auf der Pressekonferenz am 28. Mai. "Lassen Sie uns neue, junge Stimmen entdecken, die neuen Pasolinis, Ecos oder Ferrantes." Zuletzt war Italien 1988 Ehrengast der Frankfurter Buchmesse. Boos hatte, wie er erzählte, am Tag zuvor einmal seine Regale daheim nach italienischer Literatur durchsucht. Was fand er? Den Klassiker "Il Gattopardo" von Lampedusa, eine mehrbändige Ausgabe von Landolfi, die um 1988 zu damaligen Gastland-Auftritt auf Deutsch erschienen war, sowie einige Krimis. Dann nicht mehr viel. Diese große Lücke, die er nicht nur bei sich vermutet, wolle man in diesem Jahr schließen. 

Buchmesse-Chef Juergen Boos, Innocenzo Cipolletta (Präsident des italienischen Verlegerverbandes AIE) und Armando Varricchio (Botschafter Italiens in der Bundesrepublik Deutschland, v.l.)

Mehr als 150 Neuerscheinungen aus dem Italienischen seien im Rahmen des Ehrengastprogramms bereits erschienen - Tendenz: steigend. 

"Viele Verlage nehmen den Ehrengastauftritt zum Anlass, um Autor:innen aus ihrem Programm nach Frankfurt einzuladen. Das Messepublikum kann sich also auf vielfältige und zahlreiche junge literarische Stimmen aus Italien freuen" so Boos. Autor:innen wie etwa Claudia Durastanti, Igiaba Scego und Vincenzo Latronico, die man zuletzt auf der Turiner Buchmesse getroffen habe, sowie Ginevra Lamberti und Anna Giurickovic Dato, die auf der Pressekonferenz dabei sind, und viele weitere werden in Frankfurt begeistern. "Erste Lesetipps stellen wir bereits jetzt, im Pride Month Juni, vor".

Mauro Mazza

Bei der auf Deutsch und Italienisch gehaltenen Pressekonferenz, bei der mehrere Simultandolmetscher:innen für gegenseitiges Verstehen sorgten, gaben Juergen Boos sowie Armando Varricchio, Botschafter Italiens in der Bundesrepublik Deutschland, Mauro Mazza, Sonderbeauftragter der italienischen Regierung zum Ehrengastauftritt und Innocenzo Cipolletta, Präsident des italienischen Verlegerverbandes AIE, Einblicke in den Ehrengastauftritt Italiens. Er steht unter dem Motto "Verwurzelt in der Zukunft". 

Gut besuchte Pressekonferenz im Frankfurter Literaturhaus

Der Botschafter Armando Varricchio sagte, man wolle Italien nach Frankfurt bringen, aber zudem die engen Verstrickungen, auch die emotionalen, zwischen Deutschland und Italien thematisieren. Italien sei sehr unterschiedlich, man könne unterschiedliche Farben nutzen, zusammensetzen. Genau das wolle man mit dem Gastland-Aufritt schaffen. Mauro Mazza führte aus, das der letzte Monat sehr arbeitsintensiv gewesen war, "aber jetzt sind wir hier, haben es geschafft". Bei den Autorinnen und Autoren, die man mit auf der Messe bringe, handle es sich um eine Mischung aus aufstrebenden Talenten und etablierten Kräften. Es gehe um freiheitliches Gedankengut, Pluralismus. Der Pavillon, gestaltet als typische italienische Piazza, stehe als Ort des Zusammentreffens und der Debatten dafür. Er merkte an, dass die Politik in Italien manchmal vergesse, das man Kultur braucht. Dass es um Respekt gegenüber dem Gesprächspartner geht. Kultur müsse eine Plattform für alle bieten. AIE-Präsident Innocenzo Cipolletta nannte Zahlen zum italienischen Buchmarkt (siehe unten) und kündigte an, dass auf der Frankfurter Buchmesse zahlreiche, wenn nicht alle, Genres der italienischen Literatur präsentiert werden. Außerdem wolle man über Autorenrechte reden: "Wir sind avantgardistisch, was das betrifft", so Cipolletta.

Stefano Boeri, Architekt und Stadtplaner, stellte das Design des Ehrengastpavillons vor, das einer italienischen Piazza gleicht, und damit einen Ort für die Begegnung und den Austausch auf der Messe bilden soll ("Italia un mondo di piazze"). Die typischen Bogengänge werden nachempfunden. Der 600 Quadratmeter große Pavillon setzt sich aus der Arena und dem Caffè Letterario zusammen. Dort finden Lesungen und Live-Auftritte des Publikumsprogramms statt. Alles sollte offen gestaltet werden. Es sei zwar simpel ausgedrückt, so Boeri, aber in diesen offenen Räumen könne alles geschehen.

Das Fachprogramm erhält am traditionellen italienischen Gemeinschaftsstand Platz. 

Einblick in den Ehrengastpavillon 2024.

"Literatur soll politisch sein, ohne politisch sein zu wollen"

Juergen Boos sprach am Ende der Pressekonferenz mit den beiden italienischen Autorinnen Ginevra Lamberti und Anna Giurickovic Dato unter anderem über die italienische Literaturlandschaft. Lamberti erklärte, dass man vom Bücher-Schreiben in Italien tendenziell nicht leben könne, man müsse "Mosaik-Arbeit" leisten. Sie arbeite etwa zusätzlich als Übersetzerin aus dem Englischen, als Journalistin und mache Schreibkurse. Im August erscheint bei Piper ihr Roman "Der Aufruhr unserer Herzen" (Ü: Annette Kopetzki), Protagonistinnen sind junge Frauen in einer entlegenen Provinz in der 1970er Jahren – und die Explosion des Heroin. Über die Drastik des Romans "Das reife Mädchen" (Piper; Ü: Annette Kopetzki) von Anna Giurickovic Dato sei er erschrocken, so Boos. Es geht um die Vergewaltigung eines Mädchens durch ihren Vater. Es sei kein Unterhaltungsroman. Literatur solle Tabus zeigen, meinte Giurickovic Dato, verstörende Literatur sei wichtig. Autorin und Leser:innen würden sich etwas fragen, was sie sich sonst nicht fragen würden. Und: "Literatur soll politisch sein, ohne politisch sein zu wollen." Sonst würde sie Kraft verlieren, könnte nichts mehr bewegen. 

Allgemein befinde sich die Literatur Italiens in einer Phase der Hybridisierung der Genres, merkte Lamberti an. Mischformen aus einzelnen Genres seien angesagt. 

Was erwartet Giurickovic Dato von der Frankfurter Buchmesse? Pluralismus, Freiheit, dass sich jeder ausdrücken kann. "Internationale Buchmessen können dazu dienen, dass wir uns selbst vergessen, um mit anderen in Einklang zu treten." 

Ginevra Lamberti

 

Anna Gurickovic Dato

Wer kommt? Wer kommt nicht?

In der offiziellen Delegation des Ehrengasts Italien sind zwar über 100 Autorinnen und Autoren vertreten, aber in der anschließenden Fragerunde wurde, fast schon üblich bei solchen Listen, der eine oder andere Name vermisst. "Wir haben einfach eine Auswahl getroffen", antwortete Mauro Mazza. Aus Leuten, die wollten und konnten. Das sei eine Diskussion, ergänzte Juergen Boos, die man jedes Jahr habe. Es gebe etwa Autorinnen und Autoren, die aus gesundheitlichen Gründen nicht kommen können oder solche, die kein aktuelles Buch geschrieben haben. Und er wies darauf hin, dass auch deutsche Verlage auf eigene Faust ihre italienischen Autorinnen und Autoren einladen.

Als Beispiel für einen Autor, der die offizielle Einladung nicht angenommen habe, nannte Mazza Antonio Scurati, den Autor einer Romantetralogie über Benito Mussolini. Aber ganz so einfach ist die Sache nicht. Scurati war kürzlich vom nationalen, italienischen TV-Sender RAI, wo er eine Rede halten sollte, nach Einsendung seines Texts ausgeladen worden. Er wird aber dennoch auf der Frankfurter Buchmesse sein, wie sein deutscher Verlag Klett-Cotta am Vormittag der Pressekonferenz meldete (28. Mai). "Auf unsere Einladung hat er glücklicherweise positiv reagiert", schreibt der Stuttgarter Verlag. "Er wird auf verschiedenen Bühnen auf der Messe und in der Innenstadt sitzen und über seine Bücher sprechen."

Auch Roberto Saviano fehlt in der offiziellen Delegation. Er sei nicht eingeladen worden, erklärte Mazza. Juergen Boos wusste hier, dass sein deutscher Verlag Saviano nach Frankfurt holen wird. In einem Interview mit "La Stampa" (29. Mai) sagte Saviano: "Ich bin stolz darauf, nicht von der, wie ich finde, ignorantesten Regierung in der italienischen Geschichte eingeladen worden zu sein. Je mehr sie zensieren und blockieren, desto mehr verschafft sich die Kultur- und Zivilgesellschaft Gehör und stellt sich auf die andere Seite der Strafmaßnahmen und Racheaktionen." Eine nachträgliche Einladung in die offizielle Delegation hat Saviano laut Medienberichten vom 31. Mai abgelehnt. Der italienische Kulturbetrieb hatte den Zuständigen in Rom vorgeworfen, heißt es weiter, nicht genehme und regierungskritische Stimmen von der offiziellen Delegation auszuschließen.

Der italienische Verlegerverband AIE sah sich offenbar durch die öffentliche Debatte in Italien veranlasst, einen Tag nach der Pressekonferenz in einem eigenen Statement (29. Mai) zu erklären, dass die Auswahl der offiziellen Delegation in einem "fruchtbaren Dialog" mit Verlagen und Literaturagenten getroffen worden sei. Und natürlich fehlten einige Namen. Der Verband betont aber: "Die AIE hätte niemals eine Einmischung von außen in den Willen der Verleger zugelassen und wird dies auch niemals tun."

Update, 31. Mai:
Aufgrund der Nicht-Einladung von Saviano haben einige der 100 Autor:innen laut italienischer Medien ihre Teilnahme an der offiziellen Delegation offenbar inzwischen in Frage gestellt. Darauf reagiert die AIE am 31. Mai mit einem weiteren Statement: "Die Buchmesse ist der richtige Ort, um die unterschiedlichen Meinungen zu äußern. Ich lade die am Programm beteiligten Autoren ein, anwesend zu sein, zur Internationalen Buchmesse nach Frankfurt zu kommen und genau das im Rahmen des Programms im Italienischen Pavillon anlässlich des Ehrengastes Italien in Frankfurt 2024 zu tun", so AIE-Präsident Innocenzo Cipolletta am Rande des Internationalen Wirtschaftsfestivals in Turin. "Es ist offensichtlich, dass es ein Problem gegeben hat und dass man versucht hat, es erneut zu lösen", fuhr er fort. "Frankfurt ist eine große Chance für uns, für unsere Verlagsbranche, für unsere Autoren. Ich möchte Sie wirklich bitten, diese schöne Gelegenheit nicht zu verpassen. Jeder wird sich natürlich selbstverständlich völlig frei äußern können. Aber dort, vor Ort. Eine Zersplitterung unserer Kräfte würde nur dazu dienen, unser Verlagswesen und unsere gemeinsame Stimme zu schwächen."

Wie viel Raum soll regierungskritischen Stimmen denn beim Gastland-Auftritt eingeräumt werden, lautete auch eine Frage bei der Pressekonferenz im Literaturhaus Frankfurt. Mit dem Konzept der Agora sei sichergestellt, so Juergen Boos, das es Reibung geben werde. Und Mazza fügte dort an: "Ich kann ihnen versichern, dass sie sich nicht langweilen werden."

Nahmen an der Pressekonferenz teil (v.l.): Juergen Boos, Direktor der Frankfurter Buchmesse / Stefano Boeri, Architekt / Armando Varricchio, Botschafter von Italien in der Bundesrepublik Deutschland / Ginevra Lamberti, Autorin / Mauro Mazza, Sonderbeauftragter der italienischen Regierung für Ehrengastauftritt Italiens auf der Buchmesse 2024 / Innocenzo Cipolletta, Präsident des Italienischen Verlegerverbandes (AIE) / Anna Giurickovic Dato, Autorin / Incoronata Boccia, Moderatorin

Zum Programm

Während der fünf Tage der Buchmesse mit Vormittags- und Nachmittagsveranstaltungen gibt es Platz für Belletristik und Sachliteratur, Lyrik sowie Kinder- und Jugendliteratur, Neuheiten und beliebte Klassiker. Erkundet werden verschiedene Genres (von Krimi bis Romance), die Besucher tauchen in die lebendige Welt der Comics und Graphic Novels ein und machen Abstecher zu Kino, Musik, Kunst, Wissenschaft, Design und Tourismus, ohne dabei die zentralen planetaren und gesellschaftlichen Fragen zu vergessen: Umwelt, Technologie, Geopolitik und Europa.

"Wir sind stolz darauf, ein Programm zusammengestellt zu haben, das die italienische Verlagslandschaft von heute zusammenfasst und zeigt, mit welchen Büchern, Autoren und Ideen sie in die Welt hinausgeht: Wir haben das Programm im Dialog mit Verlegern und Agenten erstellt, und es umfasst übersetzte Autoren und Neuübersetzungen von 2024, aber auch Titel, die im Ausland noch nicht erhältlich sind, jedoch für das ausländische Publikum interessant sein könnten", erklärte der Präsident des italienischen Verlegerverbandes Innocenzo Cipolletta. "Das Programm umfasst alle Bereiche, Genres und Autorengenerationen, die von den großen Verlagsgruppen sowie von den kleinen und mittleren Verlagen veröffentlicht werden."

"Das Italien, das wir nach Frankfurt mitbringen, ist ein Italien, das durch den fruchtbaren Austausch zwischen verschiedenen Ideen und Welten gewachsen ist", sagte Mauro Mazza, der Außerordentliche Beauftragte der Regierung für die Frankfurter Buchmesse 2024. "Das vom Italienischen Verlegerverband gestaltete Publikums- und Fachprogramm steht für genau diese Offenheit."

Innocenzo Cipolletta

Italiens Buchmarkt in Zahlen

Innocenzo Cipolletta, Präsident des italienischen Verlegerverbandes AIE, präsentierte auf der Pressekonferenz auch Zahlen zum italienischen Buchmarkt 2023 und zum Vergleich 1988. Im Überblick:

  • Gesamtmarkt: 3,338 Mrd. Euro (das wären plus 412 Prozent, inflationsbereinigt plus 103 Prozent zu 1988: 652 Mio. Euro)
  • Verzeichnis lieferbarer Bücher: 1,4 Millionen (1988: 250.000)
  • Ins Ausland verkaufte Übersetzungsrechte: 7.889 (2022; letztes Erfassungsjahr) (2001, erstes Erfassungsjahr: 1.800)
  • Erwachsenen- sowie Kinder- und Jugendliteratur (verkaufte gedruckte Exemplare): 112 Millionen (plus 124 Prozent zu 1988: 50 Millionen)
  • Verlage: 5.184 (1988: 2.315)
  • Mitarbeiter der Branche, einschließlich Zulieferer: über 70.000 (1988: k.A.)
  • Buchhandlungen: über 3.000 (1988: k.A.)
  • Leserinnen und Leser (mindestens ein Buch in den letzten 12 Monaten): 31,5 Millionen (1988: 18,2 Millionen) 

Jährlich kommen rund 84.000 Neuerscheinungen heraus.

Die eine Hälfte des Absatzes teilen sich vier große italienische Verlagsgruppen – Mondadori, Mauri Spagnol, Feltrinelli und Giunti – und die andere Hälfte kleine und mittelgroße Marken und Verlage.