Nachruf auf Carsten Pfeiffer

"Er wusste schlichtweg alles"

15. April 2025
Redaktion Börsenblatt

Carsten Pfeiffer (57), Vertriebsleiter bei Cornelsen und Egmont, Mitgründer des Münchner Lyrikkabinetts und des Verlags Das kulturelle Gedächtnis, ist am 15. März gestorben. Thorsten Ahrend, Leiter des Literaturhauses Leipzig, würdigt den bibliophilen Kenner und Feingeist, der mit seiner Begeisterungsfähigkeit für Bücher und Buchprojekte so viele mitreißen konnte.

Porträtfoto von Carsten Pfeiffer vor weißem Hintergrund

Carsten Pfeiffer

Als ich 1990 oder '91 Carsten Pfeiffer kennenlernte, war ich schon einige Tage in einem klapprigen Auto unterwegs, mit einem Kofferraum voller Bücher von Reclam Leipzig, die ich als junger Lektor westdeutschen Buchhändlerinnen anzupreisen versuchte. Oder denen ich doch - zunehmend verzagt - so tatendurstig wie ahnungslos über die Usancen des Buchhandels westlich der Elbe wenigstens von der Existenz eines Leipziger Reclam Verlags Kenntnis geben wollte. Und dann gab es in der Münchner Lyrikbuchhandlung einen jungen Mann, weit jünger als ich selbst, dem ich gar nichts erklären musste. Er wusste schlichtweg alles, kannte noch die bibliophilsten Kunstdrucke und Kleinstauflagen des Hauses, besaß sie gar. Es war nicht zu fassen! Seine Nachfragen brachten mich ins Schwitzen, sie betrafen nicht nur das lieferbare Programm, sondern Ausgaben von vor zig Jahren, die ich kaum vom Hörensagen kannte. Wir redeten über Lyrik, die wir beide schätzten. Kein ostdeutscher Geheimtipp, von dem er nicht sämtliche Titel zu nennen wusste, einzelne Gedichte zitieren konnte. Von dem, was man so normalerweise kennen konnte, nicht zu reden. Die großen Autoren (und Autorinnen) des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts schien dieser imposante Mann sämtlich persönlich getroffen zu haben, nicht nur die deutschen. 

Seitdem pflegten wir Kontakt, anfangs nur auf den Messen, bald freundschaftlich. Was ich damals nicht wusste: Carsten Pfeiffer, noch nicht Mitte zwanzig, war nicht nur angestellter Buchhändler hinter dem Ladentisch, sondern Mitgründer des Münchner Lyrikkabinetts oder jedenfalls seit der Gründung dabei, als Buchhändler, Antiquar, Organisator von Lesungen. Damit hatte der auf Gran Canaria Geborene schon als Schüler in München angefangen, immerhin mit so großen Namen wie Wolfgang Koeppen, Horst Bienek, Heinz Piontek. Dass er mit achtzehn noch als Schüler seinen ersten Verlag gegründet hat, zusammen mit Lutz Hagestedt, habe ich aus einem Artikel seines Freundes André Brenner gelernt, Verkaufsleiter des Beck Verlags. Der Verlagsname setzte sich aus den Vornamen beider Verlagsgründer zusammen: LUCCA (Lutz Cum Carsten), das Signet war die stilisierte Stadtmauer der Stadt in der Toscana. Immerhin zählte Wolfdietrich Schnurre zum Verlagsprogramm.

Für Cornelsen stand er im Buchhandel wie keiner sonst

Mit knapp neunzehn begann er eine Ausbildung zum Verlagsbuchhändler bei Herbig/Langen Müller und wurde schnell zum Assistenten der Geschäftsführung bei Limes und Nymphenburger. Mit der Verlegerin Marguerite Schlüter pflegte er bis zu ihrem Tod 2018 ein enges Verhältnis, und die Liebe zum Werk von Gottfried Benn nahm von hier ihren Ausgang, aber auch die zu amerikanischen Autoren wie Capote, Burroughs, Ginsberg, Ferlinghetti, die fürs Deutsche von Limes bzw. Marguerite Schlüter entdeckt wurden.

Mehr als zwanzig Jahre lang war Carsten Pfeiffer danach Vertriebsleiter des Cornelsen Verlags, eines Verlags, dessen Bücher jede/r kennt, aus der eigenen Schulzeit oder der der Kinder. Aber kennt man die wichtigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter? Wenigstens die Verleger? Vielleicht bin ich zu wenig informiert in dieser Sache. Niemand jedenfalls, die/der Carsten Pfeiffer nicht kannte, für Cornelsen stand er nicht nur im Buchhandel wie keiner sonst. Dass er 2017 bei den Egmont Verlagsgesellschaften anheuerte, um dort den stationären Buchhandel zu betreuen, blieb dagegen eine Episode. Auch seine Beratertätigkeit für verschiedene Verlage danach.

Sein Ziel: Freude zu schenken, sich selbst und den Leserinnen und Lesern

Sein Herz hängte er an den Verlag Das kulturelle Gedächtnis, den er zusammen mit vier Freunden gründete, um mit Spaß, Entdeckerfreude, tiefer Kenntnis und Lust schöne, kluge, verspielte Bücher herauszubringen, die andernorts nicht einmal in den Horizont der Wahrnehmung geraten, deren vorheriges Fehlen aber sofort als schweres Versäumnis bemerkt wird, wenn sie denn endlich vorliegen. Die inzwischen mehr als fünfzig Bücher des Verlags sind sämtlich Kleinode, nicht gemacht, um Geld zu verdienen – niemand von den Verlegern musste vom Kulturellen Gedächtnis leben, weil alle bekannte Namen im Literaturbetrieb waren/sind, die in Festanstellungen oder auf andere Weise ihren Lebensunterhalt verdienten, sondern um Freude zu schenken, sich selbst und den Leserinnen und Lesern. "Die Wunderkammer der deutschen Sprache", die Carsten Pfeiffer gemeinsam mit Thomas Boehm herausgab, mag aufs Schönste für das ganze Programm des Verlages stehen. Lauter Wunderkammern. Die von Carsten Pfeiffer bei verschiedenen Verlagen herausgegebenen Anthologien und Wiederentdeckungen, etwa Grete Weil, bezeugen seinen Horizont und seine Rastlosigkeit. Seine Sammlung von Autographen, Büchern und Grafiken verriet den Kenner, den Feingeist, der auf der Suche nach Kostbarkeiten sein Jagdglück genoss und ebensolche Freude am Verschenken von seltenen Dubletten hatte.

Mitreißend und stets voller Pläne

Als er (ohne das Kulturelle Gedächtnis zu verlassen natürlich) nach einem privaten Schicksalsschlag von Berlin nach Leipzig zog und als Vertriebsleiter zum wiedergegründeten Verlag Faber und Faber wechselte, gab er dort – beispielsweise – den "Kalender für Bücherfreunde" heraus, der mit seinem Insider-Kenntnisreichtum, seinen kleinen und großen Frechheiten und seiner spielerischen Herangehensweise in der Branche schnell größte Beliebtheit fand.

Nach dem Ende seiner Tätigkeit (und dem bald folgenden des Verlags) ging er zurück nach Berlin und gründete mit Frank Henseleit in Köln das Kupido-Depot, eine Modell-Buchhandlung, die sich mit Hilfe der unabhängigen Verlage speziell für die Sichtbarkeit der Indies einsetzen wollte, der aber nicht anhaltender Erfolg beschieden war.

Carsten, der gute, verlässliche Freund, war immer voller Pläne, seine Begeisterungsfähigkeit für Projekte und Bücher, die unbedingt herausgebracht werden müssten, war mitreißend, seine Kontakte zu Verlagen waren nach wie vor exzellent, ebenso seine Drähte zu den Sortimentern und zu Versendern. Er hat sie nicht mehr realisieren können, am 15. März ist er, viel zu jung, gestorben. Mögest Du im Bücherhimmel sein, lieber Carsten, wer, wenn nicht Du.