Lesetipp

Die sackfreien Jahre der Kultur

14. Juli 2021
von Börsenblatt

Hin zu einem kulturellen Pluralismus, bei dem Leser*innen Schreibweisen entdecken können, die nicht die eigenen Erfahrungen ausmachen: Florian Kessler, Lektor für deutschsprachige Gegenwartsliteratur bei Hanser, hat sich kluge Gedanken über eine sich immer weiter öffnende aktuelle Literaturlandschaft und die Literaturkritik gemacht.

In der heutigen Ausgabe der "taz" beschreibt Kessler, dass die Idee, selbst ein Buch zu schreiben, für immer mehr Milieus denkbar werde: "Das hat sicher etwas mit Vorbildern zu tun. Mit der zunehmenden Sichtbarkeit von Geschichten und Autor*innen, die sich den Kriterien und Traditionen jenes etablierten, weißen, heteronormativen Bildungsbürgertums entziehen, das auch 2021 noch den Großteil von Verlagswesen und Kritik ausmacht." Kessler setzt sich mit den Thesen des Münsteraner Literaturwissenschaftlers Moritz Baßler  zur gegenwärtig erfolgreichen Literatur auseinander, bei denen es nicht mehr um die Hinterfragung und Verkomplizierung der Welt gehe: "Sondern um beschwerdefrei genießbare identitäre Zugehörigkeitsgefühle, von den Millionen kritiklos hingerissenen Leser*innen der Instagram-Gedichte Rupi Kaurs bis zur Weigerung woker Akademiker*innen, die postmoderne Komplexion eines David Foster Wallace auch nur aufzublättern."

Kessler sieht das Problem auch in einer Kriterienkrise, sieht es im Zustand ihrer Kritik, "von den deprimierenden Oberlehrergehässigkeiten des 'Literarischen Quartetts' über die pseudomutig alle meistdiskutierten Romane des Frühjahrs ignorierende Liste des Preises der Leipziger Buchmesse bis zur höhnischen Weigerung von Teilen der Bachmann-Wettbewerb-Jury, sich mit einem 'zu klugen' Text der Autorin Heike Geißler auseinanderzusetzen." Die sich immer weiter öffnende aktuelle Literaturlandschaft widersetze sich "heftig wie nie dieser uralten Idee der Exklusivität. Es ist dieses Auseinanderklaffen von Kritikerköpfen und Textkörpern, das den seltsamen Umstand dieser Jahre erzeugt, eine viel interessantere Literatur zu haben als ein allgemeines Gespräch über sie."

Die "sackfreien Jahre der Kultur", so nennt Kessler die aktuelle Entwicklung: "Keine Säcke, wie etwa ich als Lektor, bestimmen mehr so einfach wie früher, welche Kunst in welchen Sack hineindarf und welche nicht." Er plädiert für einen Perspektivwechsel mit neuem Blick auf einen kulturellen Pluralismus, bei dem Leser Schreibweisen entdecken können, die die gerade eben nicht die eigenen Erfahrungen ausmachen: "Anders als beim alle Unterschiede zu einer einzigen mäßigen Pampe nivellierenden 'Midcult' steckt in dieser Perspektive drin, dass in der Gegenwartskultur viel Verschiedenes von vielen verschiedenen Standpunkten her zu entdecken ist – wenn man nur will."

Florian Kesslers Artikel "Sprengt die Denkmäler, schreibt euch selbst welche!" ist in der Ausgabe der "taz" vom 14. Juli nachzulesen.