Braun hat mit dem „Deutschlandfunk Lyrikkalender“ zwischen 2007 und 2011 beispielsweise die größte und umfassendste Gedichtanthologie aufgesetzt, die es je gegeben haben dürfte. 365 kommentierte Gedichte pro Jahr, fünf Jahre lang. Ob mit dem Wunderhorn Verlag, ob mit dem Poetenladen, ob mit dem Literaturhaus Stuttgart, Frankfurt oder Freiburg, ob Deutschlandfunk, Leonce-und Lena-Preis oder das Erlangener Poetenfest, Braun war eine ruhige Unruh. Es brauchte ihn überall. Der Kommentar war eine seiner stärksten Disziplinen. Er konnte Texte über Texte schreiben, die maximal Bestand hatten. Er duckte sich dabei oft beiläufig. Denn nicht selten drohte der Signifikant das Signifikat zu übertreffen. Alle spürten das. Alle, die davon ihren Vorteil hatten. Wenige waren es nicht.
Mit Michael Braun ist der wichtigste und weit und breit einzig universale Kenner der deutschsprachigen Lyrik des 21. Jahrhunderts gestorben. Mit ihm verschwindet eine turnschuhtragende Wissensbereitschaft, die unwiederbringlich scheint. Er konnte zitieren, rezitieren, in heiteren Stunden sogar proklamieren. Für das Entlegene ging er weit, für Regalware fand er gute Worte. In diskreten Stunden konnte er skalpellscharfe Schnellurteile fällen. Das konnte berauschend sein. Aber er steckte das Messer wieder ein, ehe man an seine Verachtung auch nur für Schlägereien hätte erinnern müssen.