Interview mit Hanya Yanagihara

"Die Gegenwart fühlt sich so apokalyptisch an"

4. Februar 2022
Redaktion Börsenblatt

Bestsellerautorin Hanya Yanagihara kommt im März nach Deutschland. Ihr neuer Roman "Zum Paradies" (Claassen) zieht sich über drei Jahrhunderte: Ein Kurzinterview mit der Schriftstellerin über Zeit, Pandemie und den Kern zwischenmenschlicher Beziehungen. 

Sie haben bereits vor Jahren mit Virologen gesprochen, die sich mit der Gefahr globaler Pandemien beschäftigen. Woher kam Ihr Interesse an diesem Thema, das dann Ausgangspunkt für Ihren neuen Roman wurde?
Pandemien haben mich schon immer interessiert. Ich bin während der letzten großen Pandemie – Aids – erwachsen geworden und habe mitverfolgt, wie sie für die Welt zur Realität wurde. Und in all meinen Büchern geht es um körperlichen Verfall aufgrund von Krankheit. Mein Vater ist Onkologe, vielleicht fühlt sich das Schreiben über Krankheit und Tod deshalb so selbstverständlich für mich an. Wenn man über die Zukunft schreibt, dann schreibt man immer über eine gegenwärtige Wahrnehmung oder sogar Angst. Und ich glaube, die Kraft der Literatur liegt darin, dieser Angst eine Form zu verleihen.  

Ihr Roman beschreibt die Veränderung unserer Wahrnehmung: Jede Sicherheit kann über Nacht verloren gehen; trotzdem geht das Leben weiter. Wie hoffnungsvoll sehen Sie die Resilienz der Menschheit?
Menschen haben seit jeher das Ende der Geschichte vorhergesagt, das ist nichts Neues. Der einzige Unterschied zur Pest und somit der Grund, warum sich die Gegenwart so apokalyptisch anfühlt, liegt darin, dass wir so viel Wissen haben. Wir müssen die Last tragen, nicht nur zu wissen, dass wir sterben werden, sondern auch wie. Mein Roman versucht zu fragen, wie Gesellschaften auf Katastrophen reagieren – ob sie durch nun durch Klima oder Krankheit ausgelöst werden. Wir Menschen wollen diejenigen beschützen, die uns nahe sind – doch wie verhalten wir uns als Bürger:innen gegenüber unseren Mitmenschen? Wie viel unserer Menschlichkeit sind wir bereit zu opfern, um in Sicherheit zu sein?   

Inwieweit spielt die Gesellschaftspolitik eine Rolle?
Für mich war die amerikanische Präsidentschaftswahl 2016 ein Ereignis, das sich wie ein Bruch in der Zeit angefühlt hat und viele Emotionen und Ängste ausgelöst hat: das Gefühl, dass das große amerikanische Experiment endet und etwas grundsätzlich Neues entsteht. Es fühlte sich so an, als würde sich die Zukunft in etwas Unbekanntes verwandeln. Dieses Erleben wollte ich in meinem Roman festhalten, deshalb erleben meine Figuren in keinem der drei Teile meines Romans das Geschehen retrospektiv. Ich wollte das Gefühl wachrufen, dass Zeit nicht linear fortschreitet, sondern sich vorwärts und rückwärts bewegt, so als wären wir in einem Möbiusband gefangen, ohne zu wissen, an welcher Stelle der Schleife wir uns gerade befinden.  

Der erste Teil des Romans handelt von dem jungen David, der trotz vieler Zweifel an der Liebe zu einem charmanten Klavierlehrer festhält. Sehen Sie die Entscheidung, gegen alle Vernunft zu lieben, als eine wichtige Freiheit?
Der Roman würde diese Frage mit Ja beantworten. Auch der dritte Teil, eine Dystopie, erinnert ja daran, dass Menschen sich auch in einer düsteren Welt noch verlieben, dass sie Freundschaften schließen, dass sie Verbindungen zu anderen Menschen suchen. Freundschaft und Liebe bleiben am Ende immer bestehen, sie sind Menschenrechte, menschliche Instinkte, die keine Gesellschaft jemals komplett auslöschen konnte, egal unter welchen Umständen.   

Ihr Roman begegnet sozialen und politischen Utopien eher skeptisch … 
Wir müssen anerkennen, dass wir als Menschen fehlbar sind. Die USA sind das historisch größte, beeindruckendste Experiment einer demokratischen Republik und zugleich ein Gebilde, das schreckliche Opfer und Leiden für große Teile ihrer Bevölkerung mit sich brachte. Jede Gesellschaft, egal wie gut ihre Absichten sind, hat einen solchen Riss in ihrer Geschichte. Der Satz "Amerika ist ein Land, das die Sünde im Herzen trägt" zieht sich durch meinen Roman, und es gibt immer wieder Stellen mit dem Argument, dass diese Sünde ein Riss im Fundament ist, der irgendwann so groß wird, dass die gesamte Gesellschaft in eine Art tiefes Loch fällt.   

Sie arbeiten für ein Magazin der "New York Times", das sich mit Ästhetik und Schönheit beschäftigt. Warum streben Ihre Romanfiguren nach Schönheit? 
Egal wie arm oder unterdrückt eine Gesellschaft ist: Irgendjemand wird immer den Versuch unternehmen, etwas zu schaffen, was das Leben schöner macht. Dieses Streben nach Schönheit ist ein fundamentaler Ausdruck unserer Menschlichkeit. Keine andere Spezies tut das, es vereint uns über alle Grenzen hinweg und durch unsere Geschichte hindurch. Die Vorstellungen von Schönheit sind unterschiedlich, aber der Impuls zur Schönheit ist universell und unendlich.  

Hanya Yanagihara wird am 15. März in Berlin (Berliner Ensemble), am 16. März in München (Literaturhaus München) und am 17. März in Köln (im Rahmen der LitCologne in der Oper Köln im StaatenHaus) lesen.