„Du wirst es nicht glauben“, sagt mein Autor ein Vierteljahr später, nachdem er eine zweite Mütze über die erste gezogen hat. Ich sehe seinen Atem, der See ist leicht zugefroren, betreten darf man ihn aber nicht. „Ich höre sie reden. Marcel und Fabienne, seine Ex. Auf der Fahrt hierher in der S-Bahn.“ – „Streiken sie nicht mehr?“ – „Nein, bleib mal bei der Sache.“ – „Du hörst sie also reden. Das ist gut“, sage ich und öffne die Nachrichten-App. Oben in der App leuchtet ein gelber Balken auf: „Eilmeldung: Streik beendet.“ – Mein Autor nickt: „Sie so zu ihm, kurz hinter Wannsee: ‚Deine Mutter hat mich nie akzeptiert. Seit wir uns kennen, wertet sie mich ab. Mal subtil, mal weniger subtil. Was du wiederum stillschweigend akzeptiert hast. In all den Jahren hast du nie meine Partei ergriffen.‘“ – „Interessant “, sage ich, „aber auch bitter. Er ist ein Muttersöhnchen, noch als Mann, noch als erwachsener Apnoe-Taucher.“ – „Ja, er hat ein unreifes Ich, ist im Grunde ein bedürftiges Kind geblieben, das es seiner Mutter recht machen will, um auf eine kindliche Weise vergöttert zu werden.“ – „Das ist natürlich Mist für jede Beziehung im weiteren Leben.“ – „Sehe ich auch so“, sagt mein Autor. – „Und weil er diese Fabienne nie mit ganzem Herzen angenommen hat, ist sie aus der Beziehung ausgebrochen. Sie hat sich seinem Taucher-Freund zugewandt, der ein souveräner, klarer Mann ohne Mutterkomplex ist.“ – „Er ist nicht sein Freund, er ist eher sein Feind.“ – „Wieso heißt sie überhaupt Fabienne?“, frage ich. „Sie ist Französin“, sagt mein Autor stolz. „Der Junge mit dem französischen Namen hat eine echte Französin abbekommen.“ – „Aber er verliert sie jetzt.“ – „Leider“, sagt mein Autor. „Allerdings hat er die Chance, sie zurückzugewinnen.“ – „Der Klassiker“, sage ich, „funktioniert immer: Boy meets girl, looses girl, tries to get girl back, looses her almost again, but finally: Happy End!” – „Ja, so in etwa, es darf halt nicht ganz so plakativ werden.“ – „Ich glaube, es muss Fallhöhe da sein, sie muss wirklich ein tugendhafter Mensch sein.“ – „Ist sie ganz bestimmt. Und er muss auch einer werden“, sagt mein Autor. „Vor allem muss er sich selbst verstehen. Seine Ängste, seinen Mutterkomplex.“ – „Ja, das ist seine Challenge“, stimme ich zu. „Womöglich ist dieser Freund-Feind eine Doppelgänger-Figur, ein Vexierbild, eine Alternative von Marcel“, überlege ich. Mein Autor bleibt stehen und zieht sich beide Mützen vom Kopf. Vom S-Bahnhof tönt das typische Abfahrtssignal über den See. „Kann es sein, dass Marcel ein tiefes, dunkles Geheimnis hat“, fragt mein Autor, ohne die Stimme zu heben. – „Ja“, sage ich, „das ist wohl so.“ – „Welches ist das?“ – „Danach muss er tauchen“, sage ich. – „Dunkler als der Mutterkomplex?“, fragt mein Autor. – „Scheint so“, sage ich, „du bist der Autor, nicht ich.“ In Gedanken versunken gehen wir zurück zur S-Bahn. „Wie geht es eigentlich Sabine?“, frage ich, bevor wir uns verabschieden. – „Gut“, sagt mein Autor. „Sie ist gerade in Island mit ihren Wanderfreundinnen.“