Verlagspraxis: Lektorat

„Der Taucher“. Vom Begleiten einer Geschichte

16. Mai 2024
Gunnar Cynybulk

Kanon-Verleger Gunnar Cynybulk arbeitet seit mehr als 25 Jahren mit Autor:innen und Übersetzer:innen an ihren Texten. Wie erklärt man Lektorat genau? Für Fingerspitzengefühl gibt es ja kein Lehrbuch - aber einen filmreifen Erfahrungsbericht, den Cynybulk beim diesjährigen Autorentreffen in Nürnberg (9.-10. Mai 2024) vortrug.

Gunnar Cynybulk

Am Anfang ist die Idee. Im Kopf einer Autorin, eines Autors blitzt der Gedanke für eine Geschichte auf, ein Einfall, der unter den Fußsohlen kribbelt. Ob es eine gute Idee oder eine Schnapsidee ist, lässt sich im Moment des Aufblitzens nicht sagen. Ideen muss man bewegen, man muss loslaufen mit ihnen. Kunst zu machen bedeutet – so sagte es einmal der Schriftsteller und Professor für Kreatives Schreiben Hanns-Josef Ortheil in einem Uni-Seminar –, alle Varianten auszuprobieren, aber nur eine zu behalten. Hilfreich ist es, wenn man dabei eine Begleitung hat. Solch eine Begleitung nennt man Lektorin oder Lektor.

 'Seien Sie froh, dass Sie einen toten Autor lesen.', sagte mir eine altgediente Lektorin, als ich vor über 25 Jahren als Praktikant im Aufbau Verlag einen Roman von Lion Feuchtwanger Korrektur lesen musste.

Gunnar Cynybulk

Als Lektor und Verleger arbeite ich seit über 25 Jahren mit Autorinnen oder Übersetzern an ihren Texten. Was ich da jahraus, jahrein tue, ist nicht leicht zu beschreiben. Ich bräuchte wohl selbst einen Lektor, einen hermeneutischen Begleiter, um es auf den Punkt zu bringen. Und es heißt tatsächlich jahraus, jahrein und tagaus, tagein, in dieser Reihenfolge, nicht andersherum, wie meist zu lesen. Das habe ich als Praktikant im Aufbau Verlag gelernt, vor über 25 Jahren, als ich einen Roman von Lion Feuchtwanger Korrektur lesen musste. Eine altgediente Lektorin steckte ihren Kopf zur Tür herein und raunte mir zu: „Seien Sie froh, dass Sie einen toten Autor lesen.“ Mit großen Augen sah sie mich durch dicke Brillengläser an, ein Augenlid zuckte nervös. „Warum denn?“, fragte ich. „Lebende Autoren sind wie Kinder. Sind alle verrückt“, erklärte die Lektorin. „Sie rufen dich nachts an, sie rücken dir auf die Pelle, wenn sie die Tinte nicht halten können oder writer's block haben. Sie wollen getröstet werden, wenn die Katze oder die Frau weg ist. Wahlweise der Kater oder der Mann. Sie trinken, sie haben Geldnot. Sie können nicht warten, bis du ihr Zeug lesen kannst, sie sind beleidigt, wenn du nur eine Nachfrage hast, sie sind ...“ – „... wie Kinder?“ – „Genau!“, raunte die Lektorin und verschwand wie ein Geist in den dunklen, staubigen Gängen des alten Aufbau-Verlagsgebäudes in der Französischen Straße in Berlin-Mitte. Mir war augenblicklich klar, dass auch Lektorinnen und Lektoren wie Kinder sind.

"Mit einem 'meiner' Autoren gehe ich bei Sonne und Schnee immer um denselben Berliner See spazieren", so Cynybulk.

Bei nervöser Unruhe, spleeniger Stimmung, writer's block – kurz gesagt: beim Schreiben eines Romans hilft Spazierengehen. Mit einem „meiner“ Autoren gehe ich bei Sonne und Schnee immer um denselben Berliner See spazieren. Der Autor, ein Bestsellerautor, ist meist unzufrieden mit seiner Arbeitsleistung oder dem Erfolg seines letzten Romans und sagt dann Sachen wie: „Das nächste Buch wird ein Langgedicht. Über einen Mann, der jeden Tag einen Marathon läuft.“ – „Gab es schon mal, ‚Forrest Gump‘“, sage ich. – „Mitnichten“, sagt der Bestsellerautor, „‘Forrest Gump‘ war ohne Reime.“  – „Es könnte schwierig werden“, sage ich vorsichtig. „Wieso?“ – „Wegen des Plots“, sage ich, „es passiert ja nicht so viel. Genaugenommen passiert immer das Gleiche. Ein Mann läuft jeden Tag Marathon.“ – „Aber gereimt“, sagt der Autor. Wir schweigen eine Weile und gehen weiter um den See. Waldarbeiter zersägen umgestürzte Bäume und häckseln totes Holz. Mein Autor muss lauter sprechen wegen des Krachs: „Wusstest du, dass der erste Marathonläufer der Geschichte getötet wurde?“ – „Ja, wusste ich. Kann es sein, dass du gerade besonders nihilistisch bist?“ – „Mitnichten“, ruft mein Autor und Freund. – „Wie heißt denn dein Held?“, frage ich vorsichtig. Wir lassen den Krach hinter uns, Joggerinnen kommen uns entgegen, andere Spaziergänger. Sprachen und Geschichten fliegen an uns vorbei. „Er könnte Marcel heißen“, sagt mein Autor. – „Das ist ein französischer Name, ist er Franzose?“ – „Nein, er ist aus dem Osten.“ – „Aus dem Morgenland?“ – „Nein, aus Ostdeutschland. Da haben sie den Kindern exotische Namen gegeben, weil sie hinter dem Eisernen Vorhang lebten und dauernd Fernweh hatten.“ – „Okay, das ist glaubhaft“, sage ich. „Aber du magst keinen Sport, allein das Joggen verabscheust du doch.“ – „Schwimmen mag ich aber“, sagt mein Autor und zeigt aufs Wasser. Noch ist es zu kalt, um anzubaden, aber in acht Wochen könnte man es versuchen. „Ich mag schwimmen unter Wasser.“ – „Das nennt man tauchen.“ – „Genau“, sagt mein Autor und grinst. Wir haben einen Anfang gemacht und die erste Runde gedreht. Eine Jahreszeit später ist aus dem gereimten Marathonmann ein Apnoe-Taucher geworden, der seinen verschwundenen Freund im Dschungel von Bali aufspüren muss. 

Geschichten können tatsächlich im Gehen entstehen, sogar beim Marathonlauf. Die gleichförmige Bewegung aktiviert unsere Kreativität, unsere Assoziationsfähigkeit. Im Gehen können wir spielerisch Formeln lösen, indem wir ihre Bestandteile neu sortieren. Es ist gut, mit dem angehäuften Wissen oder dem angehäuften Nichtwissen zu jonglieren, gedanklich Tetris zu spielen: das passt, das passt nicht so gut. Das weiß ich, damit kenne ich mich wirklich aus, das ist bloß ausgedacht.

Geschichten können tatsächlich im Gehen entstehen, sogar beim Marathonlauf. Die gleichförmige Bewegung aktiviert unsere Kreativität, unsere Assoziationsfähigkeit.

Gunnar Cynybulk

„Ich habe dir doch von Anfang an gesagt, dass die Story funktioniert“, sagt mein Autor und setzt seine Sonnenbrille auf. Stand-up-Paddler rudern über den See, Studierende machen Picknick am Ufer, es ist Sommer, bald wird der See umkippen. Inzwischen hat mein Autor einen dreiseitigen Handlungsabriss geschrieben, in dem viel gereist wird. Zu Tauch-Spots in Europa und Asien, zuletzt eben Bali. „Ich weiß nicht, ob die Story schon funktioniert“, gebe ich zu bedenken. „Wo ist denn der Konflikt? Sein Kumpel ist einfach so verschwunden? Und er findet ihn einfach so?“ – „Es ist gar nicht sein Kumpel, genaugenommen. Beide haben die gleiche Frau geliebt.“ – „Dieselbe Frau“, sage ich. – „Sage ich doch.“ – „Es muss dieselbe heißen, nicht die gleiche. Das habe ich schon als Praktikant beim Aufbau Verlag gelernt. In meiner ersten Woche.“ – „Opa erzählt wieder vom Krieg“, sagt mein Autor. „Hör mal mit dem Lektoren-Spießertum auf und konzentriere dich aufs Wesentliche. Das Wesentliche für eine gute Story ist nämlich ein Widersacher, ein Antagonist!“ – „Könnte von mir sein“, sage ich. „Aber wenn der Antagonist verschwunden ist und erst am Ende auftaucht, dann funktioniert das nicht.“ – „Mein Protagonist kann ja antagonistische Kräfte in sich haben, sein Körper kann zum Beispiel der Antagonist seines Geistes sein.“ – „Inwiefern“, frage ich. – „Indem meinem Taucher die Luft ausgeht. Er wird lungenkrank.“ – „Spannend“, sage ich.

Von der Nützlichkeit einer Recherche, von Details und Metaphern

„Ich habe alles über Apnoe-Taucher, die Taucherkrankheit, eiserne Lungen, Sauerstoffnot, Tiefseeohnmacht gelesen“, sagt mein Autor. Unsere Füße rascheln im Laub, das auf den Seeweg gefallen ist, es ist Herbst. „Mir schwirrt der Kopf“, klagt mein Freund. „Nachts ziehen Fischschwärme durch meinen Kopf, Wasserschlangen, Kraken, manchmal der weiße Hai.“ Vom Wasser steigt ein Entenpärchen auf und flattert über den See. Das Gefieder des Erpels schimmert metallisch-grün. „Du darfst dich nicht in Details verlieren“, rate ich. „Und bloß nicht zu viel recherchieren. Ein namhafter Autor, oder war es eine Autorin, hat uns mal in einem Uni-Seminar erklärt, dass man nur so zwei, drei Zeitungsartikel zu einem historischen Stoff studieren und dann drauflos schreiben soll. So bleibt man frei im Kopf für die eigentliche Geschichte.“ – „Das Ortheil-Seminar, nicht wahr? Du hast auch nur eine bescheidene Anzahl von Referenzen, du Reisender mit leichtem Gepäck.“ – „Nein, es war nicht Ortheil“, sage ich, „es war Ursula Krechel, und sie sprach über 'Landgericht', dafür wurde sie mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.“ – „Ach so“, sagt mein Autor und zeigt auf einen schwarzen Kormoran, der auf einem toten Ast sitzt. „Wie ein dunkler Paragraf“, sagt er. Metaphern, denke ich, ein anderes, auch sehr schwieriges Thema.

„Du wirst es nicht glauben“, sagt mein Autor ein Vierteljahr später, nachdem er eine zweite Mütze über die erste gezogen hat. Ich sehe seinen Atem, der See ist leicht zugefroren, betreten darf man ihn aber nicht. „Ich höre sie reden. Marcel und Fabienne, seine Ex. Auf der Fahrt hierher in der S-Bahn.“ – „Streiken sie nicht mehr?“ – „Nein, bleib mal bei der Sache.“ – „Du hörst sie also reden. Das ist gut“, sage ich und öffne die Nachrichten-App. Oben in der App leuchtet ein gelber Balken auf: „Eilmeldung: Streik beendet.“ – Mein Autor nickt: „Sie so zu ihm, kurz hinter Wannsee: ‚Deine Mutter hat mich nie akzeptiert. Seit wir uns kennen, wertet sie mich ab. Mal subtil, mal weniger subtil. Was du wiederum stillschweigend akzeptiert hast. In all den Jahren hast du nie meine Partei ergriffen.‘“ – „Interessant “, sage ich, „aber auch bitter. Er ist ein Muttersöhnchen, noch als Mann, noch als erwachsener Apnoe-Taucher.“ – „Ja, er hat ein unreifes Ich, ist im Grunde ein bedürftiges Kind geblieben, das es seiner Mutter recht machen will, um auf eine kindliche Weise vergöttert zu werden.“ – „Das ist natürlich Mist für jede Beziehung im weiteren Leben.“ – „Sehe ich auch so“, sagt mein Autor. – „Und weil er diese Fabienne nie mit ganzem Herzen angenommen hat, ist sie aus der Beziehung ausgebrochen. Sie hat sich seinem Taucher-Freund zugewandt, der ein souveräner, klarer Mann ohne Mutterkomplex ist.“ – „Er ist nicht sein Freund, er ist eher sein Feind.“ – „Wieso heißt sie überhaupt Fabienne?“, frage ich. „Sie ist Französin“, sagt mein Autor stolz. „Der Junge mit dem französischen Namen hat eine echte Französin abbekommen.“ – „Aber er verliert sie jetzt.“ – „Leider“, sagt mein Autor. „Allerdings hat er die Chance, sie zurückzugewinnen.“ – „Der Klassiker“, sage ich, „funktioniert immer: Boy meets girl, looses girl, tries to get girl back, looses her almost again, but finally: Happy End!” – „Ja, so in etwa, es darf halt nicht ganz so plakativ werden.“ – „Ich glaube, es muss Fallhöhe da sein, sie muss wirklich ein tugendhafter Mensch sein.“ – „Ist sie ganz bestimmt. Und er muss auch einer werden“, sagt mein Autor. „Vor allem muss er sich selbst verstehen. Seine Ängste, seinen Mutterkomplex.“ – „Ja, das ist seine Challenge“, stimme ich zu. „Womöglich ist dieser Freund-Feind eine Doppelgänger-Figur, ein Vexierbild, eine Alternative von Marcel“, überlege ich. Mein Autor bleibt stehen und zieht sich beide Mützen vom Kopf. Vom S-Bahnhof tönt das typische Abfahrtssignal über den See. „Kann es sein, dass Marcel ein tiefes, dunkles Geheimnis hat“, fragt mein Autor, ohne die Stimme zu heben. – „Ja“, sage ich, „das ist wohl so.“ – „Welches ist das?“ – „Danach muss er tauchen“, sage ich. – „Dunkler als der Mutterkomplex?“, fragt mein Autor. – „Scheint so“, sage ich, „du bist der Autor, nicht ich.“ In Gedanken versunken gehen wir zurück zur S-Bahn. „Wie geht es eigentlich Sabine?“, frage ich, bevor wir uns verabschieden. – „Gut“, sagt mein Autor. „Sie ist gerade in Island mit ihren Wanderfreundinnen.“

Was Berlin mit Korsika und Bali verbindet

„Ich bin dann erst mal drei Monate auf Korsika“, sagt mein Autor, „writer in residence“. Es ist fast wieder Frühling, ein ganzes Jahr ist rum. Weil ich mir den Fuß verletzt habe, sitzen wir in Decken gehüllt am See-Imbiss und löffeln Suppe. „Wenn du mir deine Korrekturen vor meiner Abreise gibst, kann ich alle einarbeiten und dir den Text zurückschicken. Und dann muss ich mich erst mal erholen und nichts denken oder schreiben. Ich bin völlig ausgehöhlt von der Arbeit am 'Taucher'.“ – „Ich dachte, für dieses Stipendium musst du an dem eingereichten Projekt arbeiten?“  – „Das kontrolliert doch niemand“, sagt mein Autor und wischt sich den Mund mit einem Stück Brot ab. „Die Vertreter fanden den Titel übrigens suboptimal“, sage ich. „Sie meinten, den habe es schon ein paar Mal gegeben, zuletzt erst von diesem Holländer, der bei Mare erscheinen ist. Der Roman hieß auch ‚Der Taucher‘ und wird sogar verfilmt.“  – „Dann nennen wir unseren vielleicht einfach ‚Marcel‘?“, sagt mein Autor. „So wie bei den französischen Romanen des 19. Jahrhunderts, wo man einfach den Vornamen als Titel benutzte.“ – „Ich weiß nicht“, sage ich, „lass uns noch mal drüber schlafen. Wollen wir was trinken? Ein Bier?“ – „Wenn ich jetzt ein Bier trinke, ist der Tag gelaufen.“ – „Dann hole ich uns eben einen Tee.“ – „Bitte keine Pfefferminze“, sagt mein Autor, „ich hasse Pfefferminze.“ Als ich mit zwei dampfenden Tassen zurückkomme, surft mein Autor im Internet. „Am Golf von Ajacco hat es jetzt 17 Grad“, sagt er. – „Mit welchem Projekt hast du dich eigentlich für das Stipendium auf Korsika beworben?“ – „Mit dem Langgedicht.“ Mein Autor pustet in seine Tasse. „Na ja, wenn du wieder da bist, ist auch dein Roman frisch aus der Druckerei da“, sage ich und puste ebenfalls in meinen Tee. – „Wahnsinn“, sagt mein Autor. „Weißt du noch, wie wir angefangen haben? Mit nichts!“ – „Ja“, sage ich. – „Wie geht es eigentlich Eva?“, fragt mein Freund, als wir aufstehen und gehen. – „Gut“, sage ich, sie ist gerade mit Freundinnen beim Skifahren.“

Korsika

Auf der Suche nach dem 'Blurb'

Ende Juli finde ich eine Postkarte im Briefkasten. Darauf ist blaugrünes Meer zu sehen und eine bewaldete Bucht. „Le Corse“ steht in schlechter Typografie darüber. Draußen ist es bullenheiß, aber in unserem See kann man nicht mehr schwimmen, er ist umgekippt und voller Algen. Ich nehme die Karte mit ins Büro, um sie im Kühlen zu lesen. Mein Fuß schmerzt immer noch. „Mein Lieber!“, lese ich. „Noch sechs Wochen hier auf Korsika. Ich tauche viel, mache Siesta, gehe mit Sabine wandern. Morgen kommt uns meine Mutter besuchen, mon dieu, aber sie bleibt nicht lange. Lass es dir gutgehen, ich freue mich auf unser Buch.“ In kleiner Schrift steht ganz am Rand der Karte: „P.S.: In Frankreich würde niemand auf die Idee kommen, seinem Kind einen deutschen Vornamen zu geben.“ Ich muss lachen, schalte den Ventilator eine Stufe höher und lese meine Mails. Ich habe andere Autorinnen und Autoren gebeten, den „Taucher“ zu lesen und etwas Lobendes dazu zu sagen, natürlich nur bei Sympathie. Sie sollen uns einen sogenannten „Blurb“ geben, ein schmückendes Zitat. Leider bekomme ich eine Absage nach der anderen. Der eine schreibt: „Ich bin in L.A., im Thomas-Mann-Haus, und stecke tief in eigenem Projekt. Enjoy the summer!“ Eine Autorin antwortet: „Von mir kommt selbst ein Buch in diesem Herbst heraus, eine Novelle, da kann ich mich unmöglich mit anderen Stoffen beschäftigen. Erbitte Vergebung!“ „Ich möchte nicht mehr als ein Zitat pro Halbjahr geben“, schreibt mir eine Debütantin, die im letzten Herbst einen wichtigen Preis gewonnen hat. Mit nichts haben wir angefangen, und nichts halten wir in Händen, denke ich reichlich nihilistisch und schalte den Ventilator auf die höchste Stufe. Mein Autor und Freund fehlt mir. Ich erinnere mich daran, wie wir seine Einfälle abgewogen haben, indem wir miteinander spazieren gegangen sind. Wir haben seine Anfangsidee umrundet wie den See, immer im Uhrzeigersinn. Die Jahreszeiten sind vergangen, das Wasser des Sees war klar, ist umgekippt, hat sich wieder geklärt. Wir haben Kormorane, Enten und sogar Haie angetroffen. Wir sind Joggerinnen, Waldarbeitern und einander begegnet. Manchmal sind wir uns auch ausgewichen. Ob Autor oder Lektor – wir alle sind schicksalsbeladene Wesen. Wir sind spielende Kinder, sind Muttersöhnchen, die bedürftig sind, wir sind Egoisten und haben Mitleid. Wenn wir zusammen um den See gehen, sind wir zumindest nicht allein. So kann aus nichts etwas entstehen. Eine Geschichte. Schreiben ist Gehen, denke ich. Und lektorieren auch.

Ob Autor oder Lektor – wir alle sind schicksalsbeladene Wesen. Wenn wir zusammen um den See gehen, sind wir zumindest nicht allein. So kann aus nichts etwas entstehen. Eine Geschichte.

Gunnar Cynybulk