Börsenblatt-Talk zum Deutschen Buchpreis

"Das Wort Held wird erst in der weiblichen Form wieder verwendbar"

14. Oktober 2020
Stefan Hauck

Buchpreisträgerin Anne Weber und ihr Verleger Andreas Rötzer waren heute zu Gast beim Börsenblatt: Nicht virtuell, sondern live sprachen sie über die ungewöhnliche Erzählform, die Figur ihrer Heldin, deren reales Engagement, über Verkäuflichkeit und die Verführbarkeit des Lesers durch einen Sprachrhythmus.

Um die Mittagszeit noch war Anne Weber auf der ARD-Bühne in der Festhalle zu Gast, dann läuft sie raschen Schritts mit Benjamin Vieth, dem Pressesprecher von Matthes & Seitz, zum Platz der Republik und durch die Kaiserstraße zum Haus des Buches: Zweieinhalb Kilometer samt unzähligen Ampeln in 30 Minuten und Maske, das ist in Frankfurt rekordverdächtig. Im Haus des Buches ist derweil ihr Verleger Andreas Rötzer eingetroffen: Um 15.30 Uhr steht der jährliche Börsenblatt-Talk mit der Buchpreisträgerin an, im Corona-Jahr nicht in Halle 3.1, sondern in der Redaktion. Ob es so etwas wie ein Erfolgsrezept gebe?, will Börsenblatt-Redakteur Michael Roesler-Graichen von Verleger Andreas Rötzer wissen – schließlich hat Matthes & Seitz vor fünf Jahren schon einmal den Deutschen Buchpreis gewonnen, mit Frank Witzels "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969".

"Man muss wohl auch Glück haben, da braucht es sicher viele Konstellationen", meint Rötzer. "Aber man muss dem Glück auch eine Chance geben, und das haben wir getan." Und wie ging es der Gewinnerin? "Ich hatte gedacht, das Buch hat ein paar schöne Besprechungen bekommen, dann war‘s das und man geht zu etwas anderem über. Aber nun ist es anders gekommen - und ich freue mich!"

"Ich wollte ihr keine Worte in den Mund legen"

Was hat Weber bewogen, ihr ausgezeichnetes Werk just in der fast vergessenen Form eines Epos zu schreiben? "Ich hatte mir anfangs die Frage gestellt, wie kann ich von einer Frau erzählen, die es in Wirklichkeit gibt? Ich wollte ihr keine Worte in den Mund legen, die sie gar nicht gesagt hat." So sei ein bisschen im Ausschlussverfahren vorgegangen: Eine Sachbuchautorin sei sie nicht – aber dann ist mir eingefallen, dass es die alte Form des Epos gibt." Sie habe eine Form gewählt, die helfe, Distanz zu schaffen, "sie unterstreicht die Künstlichkeit der Erzählform, so dass man nicht wie in einem Roman denkt: Aah, so ist sie gewesen, diese Annette."

"Niemand kannte sie unter ihrem richtigen Namen"

Roesler-Graichen wies auf die Paradoxien der Existenz der realen, 1923 geborenen Anne Beaumanoir hin. "Sie hat mir ihr Leben sehr eindrücklich geschildert als junge Frau mit 19 Jahren, abgeschnitten von der Familie, unter falscher Identität, niemand kannte sie unter ihrem richtigen Namen – wie musste das sein für sie, unsichtbar zu sein in einer Gesellschaft, für die man sich ja einsetzt, für die man kämpft , abgeschnitten von seiner Herkunft, von seiner Geschichte …?", fragt Weber. Keine einfache Persönlichkeit. "Sie hat nicht selbst Gewalt ausgeübt, aber sie hat die Gewalt unterstützt. Sie selbst hat auch gezweifelt, ob alles so richtig war."

Weber selbst bewerte als Autorin die Nähe zur Gewalt nicht, merkt Roesler-Graichen an. "Man kann allerdings Fragen stellen, Fragen an die Figur im Buch – auf die es auch keine richtigen Antworten gibt", sagt Weber. Wie hat sich Anne Beaumanoir in Webers Epos wiedergefunden? "Sie hat gesagt, das bin ja nicht ich, das ist Deine Annette. Das ist Teil ihres Heldentums, dass sie meint, das hätte doch jeder getan, was sie gemacht hat. Und Ja, es ist meine Sicht auf ihr Leben, auch wenn ich es nicht romanhaft imaginiert habe."

"Schwierige Form? Nein."

Oft denke man bei dem Wort "Helden" an diejenigen, die als Helden missbraucht wurden, meint Roesler-Graichen: Wie ist die Schriftstellerin, die derzeit Stadtschreiberin von Bergen ist und noch bis August 2021 im Stadtschreiberhaus des Frankfurter Stadtteils wohnt, auf das Wort Heldinnenepos gekommen? "Das Wort Held wird von mir erst in der weiblichen Form wieder verwendbar", erklärt Weber. "Wenn ich einen – sagen wir mal – Marcel kennengelernt hätte, hätte ich es bestimmt nicht 'Marcel, ein Heldenepos' genannt. Mich hat der Kontrast zwischen der kleinen zerbrechlichen alten Frau und dem kriegerischen Begriff des Helden gereizt."

Ob Andreas Rötzer Angst gehabt habe, dass die alte Form des Epos heute vielleicht zu wenige Käufer finden werde, möchte Roesler-Graichen wissen. "Mir war klar, dass es ein herausragendes Werk ist – die Frage nach der Verkäuflichkeit stellt man sich bei diesen Büchern gar nicht", sagt der Verleger. "Und schwierige Form? Nein, nach ein, zwei Seiten gerät man in einen Rhythmus, der verführt, auch Binnenreime tragen zu dem Rhythmus bei, und der Inhalt dringt durch die Form viel tiefer in den Leser ein." Das vielfach Gebrochene mache das Epos so faszinierend, "ein Buch, das auf jeder Seite einen originellen Gedanken hat und so dicht vorgetragen ist: Das ist rar." Was, denkt Anne Weber, könnte sie durch den Roman beeinflussen? "Meine Aufgabe ist nicht, über die Wirkung groß nachzudenken. Ich bleibe beim Schreiben in meinen Gedanken, in meinem Eindenken und Einfühlen in die Figur Annette – was es in jedem dann auslöst, das müssen Sie den Leser fragen."

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