Kolumne von Hermann Eckel

Kleine Zettel, große Wirkung

22. August 2024
Hermann Eckel

Jeder kennt sie: Post-its. Besonders gerne werden sie von Unternehmen in Workshops eingesetzt. Unser Kolumnist Hermann Eckel erklärt in seiner neuen Innovationskolumne die entscheidenden Vorteile, die die Zettelchen für die Innovationsentwicklung haben. Immerhin war die Erfindung der Post-its selbst eine Sache der Innovation.

Wir alle kennen sie: die kleinen, bunten Haftnotizen, besser bekannt als "Post-its"“®. Seit über 40 Jahren kleben sie auf Schreibtischen oder an Computerbildschirmen, kommen in Schulen und Hochschulen zum Einsatz, und auch zuhause nutzen wir die rechteckigen Klebezettel gerne als Erinnerungsstützen ("Milch einkaufen!"). Sogar im digitalen Raum haben sie sich durchgesetzt und sind Kernbestandteil zahlreicher Tools zur Online-Kollaboration wie Miro, Mural oder Microsoft Teams.

Besonders beliebt sind die Zettelchen – ob physisch oder digital – in Workshops zur agilen Zusammenarbeit und Innovationsentwicklung. Doch warum ist das so? Die Antwort ist ganz einfach: Gerade für kreative, kollaborative Prozesse bieten Haftnotizen einige entscheidende Vorteile.

Schneller Ideen sammeln

Was glauben Sie: Wie lange dauert es wohl, wenn Teilnehmende eines Workshops ihre Ideen oder Meinungen zu einem bestimmten Thema der Reihe nach mündlich ausführen? Und wie viel Zeit braucht es dagegen, wenn dieselben zehn Menschen alle zugleich ihre Stichpunkte auf Post-its® sammeln? Eben! Nach meiner Erfahrung aus zahllosen Workshops geht es mit dem zweiten Ansatz locker zehn Mal schneller. Denn nicht nur arbeiten alle parallel, sondern sind auch durch den begrenzten Platz der Klebezettel gezwungen, sich kurz zu fassen. Oder wie es der Neurowissenschaftler Henning Beck formuliert: "Ein großer Gedankengang wird zu wenigen Buchstaben, Wörtern oder Zeichen zusammengefügt. Das ist schon einmal der erste, ganz wichtige Schritt."

Beteiligt und aktiviert alle Teilnehmer

Fast noch wichtiger als diese enorme Beschleunigung beim Ideen-Entwickeln und -Sammeln: In klassischen Brainstorming- und Diskussionsrunden dominieren meist einige wenige Personen das Geschehen, während stillere Teilnehmer sich möglicherweise gar nicht zu äußern trauen. Über Post-its® hingegen können alle Beteiligten ihre Gedanken ungestört und gleichberechtigt notieren. Dadurch werden alle gleichermaßen aktiviert und sind nicht nur rein körperlich anwesend. Und da alle Perspektiven berücksichtigt werden und nicht nur die lautesten Stimmen Gehör finden, entsteht ein viel bunteres Bild. Das wiederum bildet eine deutlich bessere Voraussetzung für eine breite Akzeptanz aller Arbeitsergebnisse.

Weniger konfrontative Diskussionen

Die erstaunlichste Wirkung der Klebezettel aber entfaltet sich im nächsten Schritt, wenn diese an der Wand oder Flipchart "veröffentlicht" werden: Ich habe dabei wirklich noch nie abwertende oder gar gehässige Kommentare oder auch nur ein Augenverdrehen oder Stirnrunzeln erlebt, wie man es aus althergebrachten Diskussionsrunden leider zur Genüge kennt. Die Tatsache, dass die Teilnehmenden sich nicht gegenseitig anschauen, sondern zusammen auf etwas schauen, also buchstäblich einen gemeinsamen Blickwinkel einnehmen, macht einen gewaltigen Unterschied. Zudem betrachten alle die verschiedenen Ideen oder Argumente in ihrer Gesamtheit und unabhängig von ihren Urhebern – und das selbst, wenn sie genau wissen, wer welche Notiz geschrieben hat. Die Situation ist dadurch deutlich weniger konfrontativ und führt so zu einem viel konstruktiveren Austausch. Das Risiko, dass Teilnehmende sich in unnötigen, persönlich motivierten Auseinandersetzungen verhaken, wird extrem verringert. Genau mit dieser "Befriedung" lässt sich unfassbar viel Zeit und Energie im gemeinsamen Denk- und Arbeitsprozess sparen.

Flexibles (Um)Strukturieren

Zudem ermöglichen die verschieden farbigen Klebezettel schnelle Orientierung und können nach Belieben strukturiert und immer wieder neu angeordnet werden. Dies ist besonders hilfreich, wenn es darum geht, Themen zu priorisieren oder zu kategorisieren. Das haptische Umhängen der Notizen und das fortlaufende Visualisieren von Arbeitsergebnissen erleichtern dabei das Verständnis komplexer Zusammenhänge und fördern die interaktive Arbeitsweise zusätzlich. Das alles ist neurowissenschaftlich gut belegt.

Automatisches Protokoll

Zu guter Letzt ergeben die gesammelten Klebezettel automatisch ein Protokoll des Workshops. Jede aufgeschriebene Idee bleibt sichtbar und kann später nachgelesen werden. Dies erspart den Aufwand, während des Workshops detaillierte Notizen machen zu müssen, und stellt sicher, dass keine Idee verloren geht. Digitale Tools bieten hier den zusätzlichen Vorteil, dass die Ergebnisse nicht nur dauerhaft bestehen bleiben, sondern auch jederzeit weiterbearbeitet werden können.

Vorteile für die Innovationsentwicklung

Es liegt auf der Hand, dass all dies insbesondere für Innovationsprozesse unschätzbare Vorteile bietet. Denn gerade, wenn man sich gemeinsam ins Neue, Ungewisse vorwagt, braucht es Schnelligkeit und Flexibilität, einen offenen und konstruktiven Gedankenaustausch sowie einen geschützten Rahmen, um selbst "verrückte Ideen" äußern zu können – aus denen ja mitunter die besten Dinge entstehen.

Post-Its® Ausdruck der Innovationskraft von 3M

Übrigens ist die Erfindung der Post-its® selbst eine faszinierende Innovationsgeschichte: Ende der 1960er Jahre sollte der Chemiker Spencer Silver für 3M einen Super-Klebstoff entwickeln. Das Ergebnis schien zunächst ein Fehlschlag, denn der Kleber war viel zu schwach. Dafür ließ er sich leicht wieder von Flächen und Händen abbekommen. Nur leider sah bei 3M niemand Verwendung für diese "unsinnige" Idee. Dennoch meldete Silver seinen Kleber 1970 als Patent an und erzählte anderen immer wieder davon. Jahre später war sein Kollege Arthur Fry davon genervt, dass er im Kirchenchor immer wieder die ins Gesangbuch eingelegten Lesezeichen verlor. Er brauchte ein Lesezeichen, das auf den Buchseiten haften blieb, ohne sie zu beschädigen. Da erinnerte er sich an Silvers Klebstoff und begann mit der Produktentwicklung, in deren Rahmen auch das typische "Kanariengelb" der Klebezettel zufällig entdeckt wurde: In einem benachbarten Labor lagerte noch gelbes Schmierpapier. Der Rest ist Geschichte. Heute erzielt 3M mit Post-its® einen jährlichen Umsatz von 300 Millionen US-Dollar, insgesamt sollen jedes Jahr etwa 50 Milliarden der bunten Zettelchen verkauft werden. 3M hält über 25.000 Patente, bringt jährlich etwa 1.000 neue Produkte auf den Markt und gehört damit zu den innovativsten Unternehmen weltweit.

Wie produktiv sind Workshops in Ihrem Unternehmen? Und wie gehen Sie mit vermeintlich "unsinnigen" Ideen um?

Unser Kolumnist

Foto Herrmann Eckel

Nach dem Lehramtsstudium der Germanistik und Geschichte durchlief Hermann Eckel verschiedene Vertriebs­stationen beim Bärenreiter-Verlag und bei Oxford University Press und war von 2010 bis 2016 Managing Director beim Musikverlag Peters. Im Dezember 2017 übernahm er die Geschäfts­leitung bei tolino media und war dort v.a. für den Ausbau der Selfpublishing-Plattform verantwortlich. Seit November 2022 ist Hermann Eckel als selbständiger Berater, Trainer, Speaker, Moderator und Dozent tätig. Als Partner des Beraternetzwerks Heinold & Friends und als Inhaber seiner eigenen Firma connect2act begleitet er Unternehmen der Buch- und Druckbranche bei den vielfältigen Aspekten der digitalen, organisatorischen und kulturellen Transformation. Daneben engagiert er sich seit 2019 als Sprecher der IG Digital im Börsenverein.