Kolumne von Hermann Eckel

Eine Frage der Kultur

1. August 2024
Hermann Eckel

Hermann Eckel beleuchtet in seiner neuen Kolumne am ganz konkreten Beispiel der "BöhmeZeitung" in Soltau, wie der Wandel von einer traditionellen Zeitung zu einer modernen, agil arbeitenden und denkenden Organisation gelungen ist. Entscheidend waren nicht die technischen Neuerungen, sondern die kulturelle Transformation des Unternehmens.

Auf den ersten Blick erscheint es als eine typische Niedergangsgeschichte aus der deutschen Provinz: In den Neunzigern beschäftigte die 160 Jahre alte "BöhmeZeitung" in Soltau als wichtiger regionaler Arbeitgeber noch 180 Menschen, inzwischen sind es weniger als 40. Bis vor Kurzem gehörten zum Zeitungsverlag noch eine eigene Druckerei und eine Vertriebsgesellschaft, beide sind nun geschlossen. Die Druckmaschine wurde nach Tschechien verkauft, und das große Verlagsgebäude am Stadtrand steht leer. Die verbliebenen Mitarbeitenden sind teilweise in das kleine historische Verlagsgebäude im Zentrum Soltaus umgezogen. Alles sehr traurig – könnte man meinen.

Prozesse digitalisieren und automatisieren

Doch auf den zweiten Blick bietet sich ein ganz anderes Bild, denn die Böhme Zeitung wurde in den letzten zehn Jahren komplett transformiert: Alle Prozesse wurden digitalisiert und so weit wie möglich automatisiert. Über das selbst entwickelte und mit diversen Standard-Software-Programmen verknüpfte Redaktionssystem kann Content ganz flexibel ausgespielt werden. So erscheinen ausgewählte "Artikel des Tages" auf der Website vor der Bezahlschranke als Appetithäppchen für potentielle Abo-Kunden. Und schließlich sind bereits diverse generative KI-Lösungen im Einsatz, etwa um Interviews oder Kundenservice-Anrufe in Textdateien umzuwandeln und darin erkannte Arbeitsaufgaben an entsprechende Team-Mitglieder zu versenden. Emails können sprachgesteuert beantwortet werden ("Bitte schicke Herrn … zu seiner Mail vom … eine empathische Absage"), und jegliche Artikel, zu denen kein Foto vorhanden ist, werden flugs im Hausstil illustriert.

Offenheit für Neuerungen

Der eigentliche Clou aber besteht nicht in all den technischen Neuerungen der letzten Jahre. Vielmehr liegt er darin, wie sehr die Mitarbeiter solche neuen Lösungen inzwischen begrüßen. O-Ton des Redaktionsleiters zur Idee, ChatGPT zur redaktionellen Bearbeitung von – sprachlich meist nicht besonders überzeugenden – Pressemitteilungen zu nutzen: "Super, dann können wir uns mehr auf den kreativen Teil unserer Arbeit konzentrieren!" Ohne diese Offenheit wäre es gar nicht möglich gewesen, generative KI seit Ende 2022 so schnell und umfassend zu adaptieren.

Wandel von innen heraus

Dahinter wiederum steckt eine fundamentale kulturelle Transformation, die der Verleger Martin Mundschenk anstieß, nachdem er den Zeitungsverlag 2006 übernommen hatte. Auslöser war sein Plan, einen Gastro-Führer für die Lüneburger Heide herauszubringen. Denn schnell stellte er fest, dass das Unternehmen organisatorisch gar nicht fähig war, irgendwelche anderen Produkte außer Zeitungen zu veröffentlichen, geschweige denn, echte Innovationen zu entwickeln. Gleichzeitig war ihm aber klar, dass genau dies für den Regionalzeitungsverlag überlebenswichtig sein würde. Daher holte er nach einigen zähen Jahren eine agile Beraterin ins Haus und gründete 2014 ein "Transitions-Team", um den notwendigen Wandel hin zu einem flexibleren, dynamischeren Unternehmen von innen heraus voranzutreiben.

Agiles Arbeiten

Die Mitarbeiter wurden befähigt, eigenverantwortlich an Projekten zu arbeiten, und lernten, selbst herauszubekommen, wie etwas am besten funktioniert. Wenn dabei Fehler passieren, frage niemand nicht mehr, wer das verbockt habe, sondern, was zu tun ist, um sie künftig zu vermeiden: die viel beschworene positive Fehlerkultur. Damit wuchs das gegenseitige Vertrauen, und das Team wurde immer offener und mutiger, neue Dinge auszuprobieren und notfalls schnell wieder zu verwerfen. Der Zeitungsverlag wurde so immer mehr zu einer lernenden, agil arbeitenden und denkenden Organisation – und gibt auf seiner Website unter der Rubrik "Aus dem Verlag" sehr anschauliche und lesenswerte Einblicke in diesen Kulturwandel (www.boehme-zeitung.de).

 

Flache Hierachien

Inzwischen ist das Unternehmen kaum wiederzuerkennen. Vor 15 Jahren wurden Mitarbeiter noch gewarnt: "Gehe nicht zu deinem Fürsten, wenn du nicht gerufen wirst", sprich: Meide den Kontakt mit dem Chef, wenn du keine Probleme bekommen willst. Heute dagegen sind in einem deutlich weniger hierarchisch geprägten Umfeld neue Ideen, aber auch kritische Rückfragen von allen jederzeit willkommen. Und ein Chefbüro, an das man anklopfen müsste, gibt es auch nicht mehr. Denn die "BöhmeZeitung" ist ein Remote-first-Unternehmen, und wie die meisten Mitarbeitenden befindet sich auch der Verleger selbst meist im Homeoffice. Und der marokkanisch-stämmige Logistikleiter arbeitet schon mal zwei Wochen lang von Nordafrika aus.

Neue Unternehmens- und Arbeitskultur

Die neue, agile Unternehmenskultur ist also die wesentliche Voraussetzung für die heutige Innovationsfähigkeit des Zeitungsverlags. Die zahlreichen Prozess-Innovationen haben zu einer deutlichen Ergebnisverbesserung des Unternehmens geführt und damit die finanzielle Grundlage gelegt, künftig noch mehr Produkt-Innovationen zu entwickeln. Gleichzeitig ist die Unternehmenskultur der entscheidende Faktor, die dafür nötigen (jungen) Talente zu gewinnen. Schließlich geht die Böhme Zeitung auch bei Bewerbungsverfahren innovative Wege: Über eine attraktive Karriereseite erhalten Interessierte einen schönen Eindruck von der Arbeitskultur, die sie erwartet, und IT-Entwickler können statt einer klassischen Bewerbung einfach ein paar Programmierzeilen einsenden, was in der Community extrem gut ankommt. Und so ist es kein Wunder, dass dem kleinen Zeitungsverlag regelmäßig interessante Initiativbewerbungen ins Haus flattern – und das in Soltau!

Wie innovationsfördernd ist Ihre Unternehmenskultur?


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UNSER KOLUMNIST

Foto Herrmann Eckel

Nach dem Lehramtsstudium der Germanistik und Geschichte durchlief Hermann Eckel verschiedene Vertriebs­stationen beim Bärenreiter-Verlag und bei Oxford University Press und war von 2010 bis 2016 Managing Director beim Musikverlag Peters. Im Dezember 2017 übernahm er die Geschäfts­leitung bei tolino media und war dort v.a. für den Ausbau der Selfpublishing-Plattform verantwortlich. Seit November 2022 ist Hermann Eckel als selbständiger Berater, Trainer, Speaker, Moderator und Dozent tätig. Als Partner des Beraternetzwerks Heinold & Friends und als Inhaber seiner eigenen Firma connect2act begleitet er Unternehmen der Buch- und Druckbranche bei den vielfältigen Aspekten der digitalen, organisatorischen und kulturellen Transformation. Daneben engagiert er sich seit 2019 als Sprecher der IG Digital im Börsenverein.