Lesetipp

Eva Menasses Brandbrief für die Kunstfreiheit

5. Januar 2022
Redaktion Börsenblatt

Eva Menasse sieht die Kunstfreiheit und damit unsere demokratischen Verhältnisse in Gefahr. In der ZEIT schreibt sie darüber, warum Kunst und Alltag voneinander zu trennen sind - warum Kunst das darf, was in der realen Welt nicht erlaubt ist. 

"Wie demokratisch ist eine Gesellschaft, die sich von Künstlern gestört fühlt? Und wie souverän sind Künstler, die vor dem Zeitgeist einknicken?" - Diesen Fragen stellt sich Schriftstellerin Eva Menasse in der ZEIT. Ihre Kolumne ist ein Brandbrief für die Kunstfreiheit.

Zunächst argumentiert die Schriftstellerin, dass die Kunst die Religion als Sinn des Lebens in gewisser Weise abgelöst habe und gleichermaßen als Flucht und Erkenntnis fungieren könne. "Sie muss frei sein. Sie muss spielen dürfen, probieren, polemisieren, sie muss irren dürfen, irritieren und kränken. Sie ist das soziale Überlaufventil – was sie leistet, ist ein Kostümspiel auf ernstem Grund", so Eva Menasse.  Die Kunst sei der Hofnarr der Gesellschaft. "Den Hofnarren aber soll man weder fesseln noch töten, auch wenn sich das, was er präsentiert, in den wenigsten Fällen sofort einordnen lässt." Erst die Zeit schmiede Meisterwerke. Beispielhaft nennt sie Günter Grass‘ "Blechtrommel".

Umso wichtiger findet es Menasse, dass die Kunst, die seit je in Spannung zur Politik stand, frei ist. Während die Politik versuche, widerstrebende Interessen auszugleichen und Ungerechtigkeiten zu beseitigen, könne sich die Kunst darum nicht kümmern.

"Sie besänftigt nicht, sie verbindet keine Wunden, sie reißt sie lieber wieder auf“, so Menasse. "Mir scheint, dass diese rote Linie, die die Kunst kategorisch vom alltäglichen Leben, von seinen ernsten Anforderungen, Regeln und Gesetzen scheidet, dringend nachgezogen werden muss."

Deshalb argumentiert Menasse, dass sensible Sprache im Alltag zwar unterstützenswert sei, in der Literatur jedoch keinen Platz hätte. Beleidigende Bezeichnungen, die Charaktere in fiktionalen Texten benutzen, seien mit den echten Worten in der echten Welt nicht gleichzusetzen.

"Die überschießenden Empfindlichkeiten, der hochaggressive, tendenziell ausschließende Diskurs, der irrationale Glaube, mit den bösen Wörtern das Böse selbst ausmerzen zu können, sowie der verständliche, aber unsinnige Wunsch, nicht einmal die Kunst möge mehr daran erinnern, wie viel Schlechtes in der Natur des Menschen steckt – all das sind Symptome der Angst."

Dass sich die gesellschaftlichen Debatten um die Künste drehen, sieht Menasse als Alarmsignal. "Es zeigt, dass das demokratische Immunsystem nicht mehr richtig funktioniert." Eine Gesellschaft, die sich von ihren Künstlern zunehmend gestört und belästigt fühle, könne möglicherweise aufhören, eine demokratische Gesellschaft zu sein.

Die komplette, sehr lesenswerte, Kolumne von Eva Menasse können Sie auf der Website der ZEIT (Bezahlschranke) lesen. Kunstfreiheit: Die rote Linie | ZEIT ONLINE