Interview mit Peter Kraus vom Cleff und Jens Klingelhöfer

"E-Lending macht Investitionen in Bestseller unmöglich"

29. Januar 2021
Michael Roesler-Graichen

Der Deutsche Bibliotheksverband (dbv) macht Stimmung gegen die Verlage. Sein Vorwurf: Sie verweigerten Bibliotheken die E-Book-Ausleihe. Wie sich die Situation für Verlage, Distributoren und Autoren darstellt, lesen Sie im Interview mit FEP-Präsident und Rowohlt-Geschäftsführer Peter Kraus vom Kleff und Bookwire-Chef Jens Klingelhöfer.

Stimmt der Vorwurf des dbv, die Verlage verweigerten Bibliotheken die E-Book-Ausleihe?
Jens Klingelhöfer (JK): Im Gegenteil! Die E-Book-Ausleihe ist eine Erfolgsgeschichte. Alle großen und kleinen Verlage zusammen stellen ihre digitalen Titel den Bibliotheken zur Verfügung. Alleine über Bookwire werden DiViBib und Overdrive über 200.000 deutschsprachige Titel zur Verfügung gestellt. Dazu kommt eine weitere sehr große Zahl internationaler Titel. Noch nie konnten Bibliotheksnutzer aus einem breiteren Angebot wählen.
Peter Kraus vom Cleff (KvC): Außerdem können wir Verlage nur diejenigen Titel anbieten, bei denen uns die Autor*innen entsprechende Nutzungsrechte eingeräumt haben. Das ist nicht immer der Fall und die aktuelle Aktion des dbv, die nicht nur uns, sondern auch und vor allem die Autor*innen verärgert, streut weiteren Sand ins Getriebe.

Die E-Lending-Studie des Börsenvereins hat gezeigt, wie stark die Nachfrage nach Onleihe-Angeboten in den vergangenen Jahren gestiegen ist. Hat sich dieser Trend während der Pandemie erheblich verstärkt?
JK: Ja, wir konnten vor allem im ersten Lockdown sehen, dass Bibliotheken Titel nachgekauft haben und die Ausleihzahlen deutlich nach oben gegangen sind.
KvC: Leider hat sich dabei gezeigt, dass sich die Nachfragekonzentration auf Spitzentitel weiter erhöht hat. Damit verschärft sich die für Autor*innen, Buchhändler*innen und Verlage wirtschaftlich stark beeinträchtigende Umsatzkannibalisierung durch das E-Lending.

Nutzt der dbv die Pandemie, um die Weichen in der Urheberrechts-Gesetzgebung in Richtung einer allgemeinen E-Book-Schranke umzustellen?
KvC: Es sollte unser aller Bestreben sein, dass die Regierung endlich die Umsetzung der EU-Richtlinie entschlossen und im Sinne dessen, was in Brüssel nach vielen schmerzhaften Kompromissen mit der DSM-Richtlinie intendiert wurde, in nationales Recht überführt. Da kommen irrlichternde Störfeuer des dbv zu Unzeiten.
JK: Eine Schranke ist keine tragbare Lösung für Kreative und Verlage und käme einer Enteignung gleich. Schon heute werden Bestseller-Titel teils öfter über Bibliotheken digital verliehen als gekauft und erzielen dabei aber nur einen Bruchteil der Erlöse, die über Download-Verkäufe oder über kommerzielle Subscription/Streaming-Plattformen erreicht werden.

Hinter der Forderung der Bibliotheken steht das Argument, Print-Buch und E-Book seien in puncto Ausleihe gleich. Gibt es einen entscheidenden Unterschied?
JK: Es geht weniger um den Unterschied des Formats als vielmehr darum, dass ein digitales Angebot für viele Nutzer sehr bequem von überall genutzt werden kann, damit ist das Angebot viel niederschwelliger und attraktiver als das der Ausleihe von Print-Titeln in Bibliotheken.
KvC: Die meisten von uns werden schon mal ein physisches Buch ausgeliehen haben, welches wir nicht mehr gerne anfassen geschweige denn darin stöbern wollten. Beim E-Book erschöpft sich die Qualität nie. Das ist ein wesentlicher, unmittelbarer Unterschied. Außerdem entbehrt es nicht einer tragischen Ironie, dass das digitale Ausleihen das an sich wunderbare und unterstützenswerte Anliegen der öffentlichen Bibliotheken komplett konterkariert, zum „dritten Ort“ zu werden. Vom Sofa aus zu leihen hält Benutzer*innen von ihrer Bibliothek fern.

Eine Schranke ist keine tragbare Lösung für Kreative und Verlage und käme einer Enteignung gleich. Schon heute werden Bestseller-Titel teils öfter über Bibliotheken digital verliehen als gekauft.

Jens Klingelhöfer

Die Bibliotheken fordern die rechtliche Gleichbehandlung von gedrucktem Buch und E-Book. Die Bibliothekstantieme soll auf E-Books ausgedehnt werden. Wäre das für die Verlage und Distributoren wirtschaftlich darstellbar?
KvC: Schon die derzeitigen E-Lending-Lizenzmodelle sind wirtschaftlich deutlich unattraktiver als zum Beispiel À-la-carte-Verkäufe von E-Books. Die Bibliothekstantieme in ihrer jetzigen Ausgestaltungsform ist daher absolut inakzeptabel sowohl für Urheber*innen als auch deren Verlage. Hinzu kommt die durch die Bundesregierung trotz expliziter Vereinbarung im Koalitionsvertrag immer noch nicht umgesetzte gesetzliche Wiederbeteiligung der Verlage an den Ausschüttungen der VG Wort.

Es gibt für die „Onleihe“ Lizenzvereinbarungen. Sind die Bibliotheken resp. öffentlichen Haushalte noch in der Lage, diese ausreichend zu vergüten?
JK: Ich denke hier haben die Verlage und der dbv grundsätzlich gleiche Ziele. Die Bibliotheken müssen ausreichend mit finanziellen Mitteln ausgestattet sein, um ihren kulturellen und gesellschaftlichen Auftrag erfüllen und ein breites Angebot machen zu können. Dabei geht es meiner Meinung nach viel weniger um die Versorgung mit Bestsellern, die natürlich eine hohe Nachfrage haben. Es geht doch um die Verfügbarmachung eines breiten und vielfältigen Angebotes für alle gesellschaftlichen Gruppen. Es darf eben nur begrenzt darum gehen, die Nachfrage nach Bestseller-Inhalten zu befriedigen, von der die Verlage leben.
KvC: Es ist immer besser, miteinander statt übereinander zu reden, daher wünschen wir uns einen konstruktiven Dialog mit dem dbv. Ich habe eine hohe Wertschätzung für die Arbeit aller Bibliothekar*innen, denn sie haben der Bücher wegen ihren Berufsweg gewählt. Wir auch. Daher sollten wir alles daransetzen, gemeinsam die Finanzierung für einen fairen, angemessenen Lizenzhandel für die Bibliotheken zu erreichen.

Sind die gezahlten Lizenzgebühren überhaupt kostendeckend?
JK: Grundsätzlich sind die Deckungsbeiträge im Vergleich zu Verkäufen sehr, sehr niedrig. Bei Titeln mit wenig Ausleihen ist das verkraftbar, deshalb stellen ja auch alle Verlage ihre Titel zur Verfügung. Schaut man jedoch starke Titel an, die beispielweise 26 Ausleihen pro Jahr erzielen, sind die Erlöse alles andere als kostendeckend. Das wird dann zum Problem, wenn die Bibliotheksangebote größere Teile der Nachfrage abdecken, die ansonsten über kommerzielle Angebote gedeckt worden wäre.
KvC: Vor allem bei nachfragestarken Titeln klafft eine erhebliche Lücke, die Kannibalisierung durch das E-Lending macht die erheblichen Investitionen in Bestseller, insbesondere die Garantievorschüsse und Marketingaufwendungen, unmöglich und schmälert schmerzhaft den mit diesen Titeln erzielbaren Umsatz für den Buchhandel. Oder, kurz auf Ihre Frage geantwortet: Nein!

Bei klammen Haushalten der Kommunen müssen Bund und Länder einspringen, damit die Bibliotheken ihren Auftrag erfüllen können. Das darf nicht dadurch geschehen, dass den Autor*innen und Verlagen in die Tasche gegriffen wird.

Peter Kraus vom Cleff

Müssten Bibliotheken und Bildungsträger besser mit öffentlichen Mitteln ausgestattet werden, um den Ansturm auf digitale Leihe und digitale Bildungsmaterialien zu bewältigen?
JK: Wir unterstützen die Bibliotheken bei der Forderung nach mehr Mitteln. Ich denke aber, dabei steht nicht nur die digitale Leihe im Fokus, es geht darum, Bibliotheken und ihre Rolle in der Gesellschaft zu stärken. Digitale kommerzielle Angebote gibt es viele.
KvC: Bei klammen Haushalten der Kommunen müssen Bund und Länder einspringen, damit die Bibliotheken ihren Auftrag erfüllen können. Das darf nicht dadurch geschehen, dass den Autor*innen und Verlagen in die Tasche gegriffen wird.

Der Börsenverein, der VS und die VG Wort führen informelle Gespräche mit dem dbv. Wie ist der aktuelle Stand?
JK: Wir sind in konstruktivem Austausch. Auf Basis der aktuellen Lizenzverträge sind Verlage gezwungen, über das sogenannte „Windowing“ einige Bestseller-Titel den Bibliotheken erst einige Monate nach Veröffentlichung zur Verfügung zu stellen. Trotz des Windowing übersteigen teilweise die Ausleihzahlen die digitalen Verkaufszahlen. Damit konkurriert die Onleihe bereits heute viel zu stark mit den kommerziellen Angeboten aufgrund der Attraktivität des Angebotes für Nutzer bei einer sehr geringen Vergütung für Verlage und Autoren. Ich bin optimistisch, dass wir mit dem dbv gemeinsame Lösungen finden.
KvC: Um mit Siegfried Lenz zu sprechen: „Vernunft ensteht im Dialog“ – dazu sind wir gerne bereit, brauchen aber aufgrund kartellrechtlicher Fesseln die Unterstützung der Ministerien, um konkreter diskutieren zu können.