Buchhändler Thomas Mahr zur Absage der Leipziger Buchmesse

"Vielleicht das beste Lesefest der Welt"

17. Februar 2022
von Börsenblatt

Die Absage der Leipziger Buchmesse hat Thomas Mahr, Inhaber der Buchhandlung Mahr in Langenau, so betroffen gemacht, dass er einen Brief an die neue Kulturstaatsministerin Claudia Roth geschrieben hat. Das Kind sei zwar schon in den Brunnen gefallen, doch trotzdem wollen er und sein Team mit Nachdruck unterstreichen, wie wichtig die Leipziger Messe für den Buchhandel ist. 

Der Brief von Thomas Mahr an die Kulturstaatsministerin Claudia Roth im Wortlaut: 

Meine derzeitige Stimmungslage schwankt zwischen Entsetzen und Traurigkeit. Während Pappnasen und Kostümierte landauf, landab fröhlich Fasching feiern, während sich Fußballstadien wieder füllen und glücklicherweise auch eine Berlinale erneut stattfinden kann, wird die Leipziger Buchmesse ersatzlos entfallen. Nie wäre diese Bücherschau wichtiger gewesen als in diesem Jahr, in dem der Ungeist so auf dem Vormarsch ist. Ich verwende ungern Anglizismen, aber in diesem Zusammenhang gibt es kein besseres Wort: Die Leipziger Buchmesse ist ein Thinktank für unser Land, besser gesagt für ganz Europa.

In den späten 90er Jahren haben serbische, kroatische und bosnische Schriftsteller auf der Messe auf verschiedenen Podien miteinander diskutiert und damit symbolisch die Hand gereicht. Ich erinnere mich auch an eine Diskussion über den Völkermord an den Armeniern, bei der ein türkischer Intellektueller mit auf der Bühne saß. Ungezählte Diskussionen mit hochkarätigem Podium über die Zukunft Europas, über die Bedeutung von Minderheiten in einem Land, von der Kraft der Literatur Grenzen zu überwinden, all diese Diskussionen, in denen das „Café Europa“ als eines der Foren auf der Messe seinem Namen alle Ehre machte. Unser gemeinsames Europa braucht solche Orte, um über die Zukunft zu debattieren und um im Gespräch, der Diskussion, sich besser verstehen zu lernen.

Europa immer wieder neu zu denken, aber auch den Geschichten aus der Geschichte der anderen zuzuhören – ein großes Verdienst der Leipziger Buchmesse und durch nichts aufzuwiegen.

Und die Kultur anderer Länder: Eine berühmte deutsche Verlegerlegende stellt eine junge albanische Lyrikerin vor, eine mazedonische und eine ungarische Autorin diskutieren über den Feminismus auf dem Balkan oder ein montenegrinischer Schriftsteller erzählt mitten in der Flüchtlingskrise, wie viele Menschen sein Land während des Krieges im Kosovo aufgenommen hat. Jahr für Jahr bin ich schon allein wegen solcher Veranstaltungen nach Leipzig gefahren. Doch es würde schon reichen nur den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung zu erwähnen, der in diesem Jahr, mehr als verdient, Karl-Markus Gauß zum Messeauftakt überreicht worden wäre. Wie gespannt hätte man sein dürfen auf die Festreden und all die vielen Interviews, die dann während der Messe mit dem großen Europaenthusiasten stattgefunden hätten. Und die anderen Preise, der Literaturpreis, der Sachbuchpreis und der besonders wichtige Übersetzerpreis, immer eine mit Spannung erwartete Verleihung auf der Messe. Vor allem die Auszeichnung für die Übersetzer hat endlich die bedeutende Rolle dieses Metiers für die Literatur herausgehoben. In der großen Messehalle finden dann über all die vertretenen Medienanstalten Interviews mit Autoren und Autorinnen, Journalisten und Journalistinnen statt, mit Intellektuellen, Wissenschaftlern und Schauspielern, die im Halbstundentakt ihre neuen Bücher vorstellen. Nicht nur auf dem berühmten blauen Sofa werden alle wichtigen Neuerscheinungen des Frühjahrs vorgestellt; bei allen Fernsehsendern ist der Andrang der Zuhörer riesig. Fast zwangsläufig tauchen auch bei diesen Gesprächen Fragen über den Zustand der Welt auf, geht es politisch oder philosophisch auf jeden Fall über den Zeitgeist hinaus.  

Dabei darf man all die kleineren Bühnen auf der Messe nicht vergessen, auf denen die, nur vom Umsatz her, kleineren Verlage ihre Bücher vorstellen. Bücher die so wichtig sind, oft innovativ und den großen Verlagen immer eine Idee voraus.

Die Leipziger Buchmesse spiegelt unsere Kultur, ist Bestandsaufnahme, aber auch ein intellektuelles Frühwarnsystem, das den Verantwortlichen aufzeigt, wo unsere Gesellschaft aus dem Ruder zu laufen droht.

Nicht zu vergessen, die Abende, besser gesagt die langen Buchnächte, die ganz Leipzig während der Messe so lebendig machen und in ein Bücherwunderland verwandeln. In der alten Moritzbastei lesen junge Autoren um die Wette, jede öffentliche Einrichtung, die über Räumlichkeiten verfügt, glänzt mit einem Lesungsprogramm. In den kleinen Caféhäusern ist Platz für Lyrik und Poesie, in alten Theatern, Fabrikhallen und Kinosälen kommt neben Balkanmusik oder spanischem Tango stets auch die jeweilige Literatur zu Wort.

Nun ist jeder Buchhändler auch Kaufmann. Reicht nicht die große Bücherschau von Frankfurt aus, um auch für die Verlage ihr Business durchzuführen? Alle, die der Hoffnung waren oder noch sind, man könne Bücher genauso handhaben wie Parfum, Pralinen oder Miederwaren wurden bisher immer eines Besseren belehrt: Bücher sind anders, der Handel mit ihnen unterliegt eigenen Gesetzmäßigkeiten. Bücher brauchen ein eigenes Klima der Neugierde und des Hungers nach Wissen. Da, wo Orte der Bücher sind, befindet sich auch die Chance auf Bildung. Bücher sind nach wie vor anarchistisch, ihr Erfolg nicht so ohne weiteres steuerbar und sie brauchen neben den Lesern auch Lesefeste, wie die Leipziger Buchmesse - vielleicht das Beste auf der Welt.