Auftakt der Woche der Meinungsfreiheit

"Wir müssen uns jetzt zur Wehr setzen"

6. Mai 2024
Matthias Glatthor

Am Freitagabend wurde der sächsische SPD-Spitzenkandidat Matthias Ecke (41) in Dresden beim Anbringen von Europawahl-Plakaten krankenhausreif geschlagen: eine neue Dimension der Bedrohung der Freiheit. Am gleichen Abend startete in Frankfurt am Main die "Woche der Meinungsfreiheit" (3.–10. Mai), deren Beiträge zeigten, dass sie wichtiger denn je ist.

Auftakt-Diskussionsabend: „Freies Wort – freies Europa?“ mit Jan-Pieter Barbian, Petra Reski und György Dalos, Moderation: Shelly Kupferberg (von links). In Kooperation mit dem S. Fischer Verlag und dem Dezernat für Europäische Angelegenheiten der Stadt Frankfurt. 

"Im Angriff auf Matthias Ecke könnte eine Zäsur liegen, weil er eine gefährliche Botschaft aussendet", schreibt die "Zeit" am 5. Mai. Sie laute: "Es gibt keine Grenze mehr". Wer sich für diese Demokratie einsetzte, solle jetzt offenbar im Hinterkopf haben, dass dieses Engagement gefährlich ist. Am Freitagabend wusste man im Literaturhaus Frankfurt davon noch nichts – doch auch hier klang das "Wehret den Anfängen" deutlich an. 

Im Literaturhaus Frankfurt fand ab 19.30 Uhr eine Diskussionsrunde zum Auftakt der Woche der Meinungsfreiheit (3.-10. Mai) statt. Thema: "Freies Wort – freies Europa?" Die Veranstaltung war eine Kooperation zwischen dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels, der Koordinationsstelle EU-Angelegenheiten des Dezernats V der Stadt Frankfurt am Amin und des S. Fischer Verlags, als Teil der Initiative "Wissen Erinnern Fragen" des Frankfurter Verlags. Über den wachsenden Einfluss populistischer und autokratischer Strömungen in vielen Ländern Europas sprachen, einen Monat vor der wichtigen Europawahl am 9. Juni, der Historiker Jan-Pieter Barbian, der Schriftsteller und Historiker György Dalos sowie die Journalistin und Autorin Petra Reski. Moderiert wurde das Podium von Shelly Kupferberg.

Zunächst begrüßte Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins, dass sich die Woche der Meinungsfreiheit in den wenigen Jahren seit dem Start bereits etabliert hätte – in diesem Jahr gestalten sie 70 Partner-Institutionen mit. Dabei werde in der Woche die Aufmerksamkeit auf Europa gelenkt, stünden doch, wie gesagt, die Europawahlen an – mit so vielen Wahlberechtigten wie noch nie. Mit Blick auf populistische, demokratiezersetzende Bewegungen in Europa, betonte sie: "Für uns ist das Recht der freien Meinungsäußerung, der Sauerstoff, den wir brauchen". Die Meinungsfreiheit sei in Gefahr, wenn dezidierte Autokraten die Macht erlangten. Um die Demokratie zu stärken, sei die Selbstverpflichtung zur Meinungsbildung vorausgesetzt. Was für die Zukunft der Demokratie entscheidend sei, solle in der Woche der Meinungsfreiheit beleuchtet werden.

  • Hörtipp: Am 12. Mai ist ein Mitschnitt der Veranstaltung bei HR Kultur zu hören.

Alexander Roesler, Editor-at-Large im Sachbuchlektorat von S. Fischer, wies auf die in seinem Verlag im April erschienene vollständig überarbeitete und aktualisierte Neuausgabe von Jan-Pieter Barbians Standardwerk "Literaturpolitik im NS-Staat" hin, betonte, wie wichtig es sei, zu fragen, wie so etwas gekommen ist, und wie man es verhindern könne. Die Frankfurter Stadträtin und Dezernentin unter anderem für EU-Angelegenheiten Eileen O’Sullivan, hob ebenfalls hervor, wie essenziell das freie Wort für die Demokratie sei – in einer Zeit, wo populistische Kräfte fälschlicherweise in den Raum stellen, dass das freie Wort nicht mehr möglich sei.

György Dalos 

Dass Autokratien weltweit auf dem Vormarsch sind, belegt eine aktuelle Bertelsmann-Studie (der Transformationsindex der Bertelsmann Stiftung / BTI 2024), die Moderatorin Shelley Kupferberg anführte: Von 137 untersuchten Ländern seien 74 Autokratien und 63 Demokratien. Das sei ein Negativrekord der vor 20 Jahren erstmals aufgelegten Studie. Wie lässt sich diese Entwicklung erklären, welche Schritte erfolgen auf dem Weg zu einer Autokratie? Das versuchte das Podium zu ergründen. Der 80-jährige ungarische Schriftsteller György Dalos, der in Berlin lebt, erzählte, dass in Ungarn nach 1989 die Erwartung an Europa so stark war, um so größer sei die Enttäuschung bei manchen gewesen, dass die Demokratie nicht sofort alle Probleme lösen konnte. Nach Verblassen der anfänglichen Euphorie traten erste Gegensätze auf. Dalos, der 2010 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung erhalten hat, merkte an, dass im Rechtsstaat unter anderem das Geld die Waffe sei, um Medienpolitik zu machen. So sei etwa dem unabhängigen ungarischen Schriftsteller-Verband die staatliche Förderung gestrichen worden. Die Solidarität der europäischen Literatur-Organisationen dagegen sei jedoch ein erfreuliches Zeichen gewesen. Aktuell würden 70-80 Prozent der Ungarn ausschließlich Regierungsmedien konsumieren können.

Petra Reski 

Die Journalistin Petra Reski, die seit 1991 in Italien lebt, konnte Interessantes aus ihrer neuen Heimat beitragen. Ein Phänomen in Italien sei es, dass jede Regierung, die neu antritt, die entscheidenden Posten im öffentlichen Rundfunk neu besetzt. Das habe sich in den vergangenen Jahrzehnten so eingebürgert. Und die Italiener würden fast ausschließlich durch das Fernsehen informiert. Da die "kleine, blonde Meloni", von der "New York Times" als Führerin der neuen Rechten in Europa tituliert, an der Seite der NATO stehe, werde über inner-italienische Angelegenheiten im Ausland, besonders auch in Deutschland, kaum berichtet. Hinzu komme die "totale Unfähigkeit der Opposition" seit Berlusconi, so Reski.

Jan-Pieter Barbian

Klare Worte fand Jan-Pieter Barbian, der in seinem Buch die Schritte zur Mediendiktatur im NS-Regime untersucht hat. Nach der Machtergreifung der Nazis sei die Zerstörung der Strukturen relativ schnell abgelaufen, nur, dem organisatorisch etwas entgegenzusetzen habe etwas gedauert. Auf heute übertragen, sei es eine "Aufgabe von uns allen", mahnte Barbian, "die Demokratie zu stärken". Wenn man nicht rechtzeitig anfange, sei es zu spät. Die Frage sei, "ergeben wir uns, oder setzen wir uns zur Wehr?" Wenn wir das wollen, dann müssten wir es jetzt tun – Beifall aus dem Publikum.

Vom Demos allein werden sich die AfD-Wähler:innen nicht beeinflussen lassen, befürchtet Barbian. Bei den kommenden Wahlen sieht er so keine großen Verluste der AfD. "Wir müssen entschiedener vorgehen." Einen anderen Aspekt sprach er, mit Blick ins daraufhin leicht murrende Publikum, mit der Frage an: Wo bleiben die Jungen bei solchen Veranstaltungen? Diese seien auf TikTok oder Instagram unterwegs. Müssten sie dort abgeholt werden?

Einig war man sich auf dem Podium über die wichtige Rolle der demokratisch orientierten Zivilgesellschaft. Hier gibt es in Ungarn und Italien Anlass zur Hoffnung. Wenn die Verfassung in Italien angegangen würde, dann könnten die Italiener, wie schon 2016, rebellieren, meinte Petra Reski. 

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