Börsenverein: IG Meinungsfreiheit über Israel und Antisemitismus

"Robert Habeck hat das Selbstverständliche gesagt"

3. November 2023
Redaktion Börsenblatt

Die IG Meinungsfreiheit im Börsenverein meldet sich zum Thema Antisemitismus zu Wort - und verweist auf die vielgelobte Video-Ansprache von Vizekanzler Robert Habeck: "Lesen Sie ihn, hören Sie ihm zu", so Margit Ketterle, Co-Sprecherin der IG Meinungsfreiheit: "Er sagt alles". Hier dokumentieren wir beides: die Stellungnahme der IG und Robert Habecks klare Rede zum Thema Antisemitismus.

Porträtfoto Margit Ketterle

Margit Ketterle

Ich bin froh, dass unser Vizekanzler ein Büchermensch ist - lesen Sie ihn, hören Sie ihm zu. Er sagt alles.

Margit Ketterle, Co-Sprecherin der IG Meinungsfreiheit im Börsenverein

"Hass ist keine Meinung - und nicht zu verteidigen"

Margit Ketterle, im Börsenverein Co-Sprecherin der IG Meinungsfreiheit, schreibt in einer kurzen Stellungnahme zu Israel und zum Antisemitismus:

"Robert Habeck, der Bundeswirtschaftsminister, ist auch ein Autor. Er hat nachgedacht, sagt er, etwas aufgeschrieben und sich vor die Kamera gestellt. Er hat das Selbstverständliche gesagt: Hass gegen Juden und Jüdinnen ist inakzeptabel. Überall, und besonders bei uns in Deutschland. Ohne Wenn und Aber.

Sprachlosigkeit hilft nicht gegen moralische Relativierung, deshalb treten wir Büchermenschen ein für Menschenrechte und Demokratie. Ich bin froh, dass unser Vizekanzler ein Büchermensch ist - lesen Sie ihn, hören Sie ihm zu. Er sagt alles."

Die Video-Ansprache von Robert Habeck im Wortlaut zum Nachlesen:

Der Terrorangriff der Hamas auf Israel ist jetzt bald vier Wochen her. Viel ist seitdem passiert. Politisch, aber vor allem für die Menschen. So viele Menschen, deren Leben von Angst und Leid zerfressen wird.

Die öffentliche Debatte ist seit dem Angriff aufgeheizt, mitunter verworren. Ich möchte hier mit diesem Video einen Beitrag dazu leisten, sie zu entwirren.

Zu viel scheint mir zu schnell vermischt zu werden. Der Satz, „Israels Sicherheit ist deutsche Staatsräson“ war nie eine Leerformel und er darf
auch keine werden. Er sagt, dass die Sicherheit Israels für uns als Staat notwendig ist.

Dieses besondere Verhältnis zu Israel rührt aus unserer historischen Verantwortung: Es war die Generation meiner Großeltern, die jüdisches Leben in Deutschland und Europa vernichten wollte.

"Heute hier, in Deutschland. Fast 80 Jahre nach dem Holocaust"

Die Gründung Israels war danach, nach dem Holocaust das Schutzversprechen an die Jüdinnen und Juden – und Deutschland ist verpflichtet, zu helfen, dass dieses Versprechen erfüllt werden kann. Das ist ein historisches Fundament dieser Republik.

Die Verantwortung unserer Geschichte bedeutet genauso, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland frei und sicher leben können. Dass sie nie wieder Angst haben müssen, ihre Religion und ihre Kultur offen zu zeigen. Genau diese Angst aber ist zurück.

Ich habe kürzlich Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Frankfurt getroffen. In einem intensiven, einem schmerzhaften Gespräch erzählten mir die Gemeindevertreter, dass ihre Kinder Angst haben, zur Schule zu gehen, dass sie nicht mehr in Sportvereine gehen, dass sie auf Anraten ihrer Eltern die Kette mit dem Davidstern zuhause lassen. Heute hier, in Deutschland. Fast 80 Jahre nach dem Holocaust.

Sie erzählten, dass sie sich selbst nicht mehr trauen, in ein Taxi zu steigen, dass sie Briefe nicht mehr mit Absendern versehen, um ihre Empfänger zu schützen. Heute hier, in Deutschland. Fast 80 Jahre nach dem Holocaust.

Ein jüdischer Freund berichtete mir von seiner Angst, seiner schieren Verzweiflung, seinem Gefühl von Einsamkeit. Die jüdischen Gemeinden warnen ihre Mitglieder, bestimmte Plätze zu meiden – zu ihrer eigenen Sicherheit. Heute hier, in Deutschland. Fast 80 Jahre nach dem Holocaust.

Es braucht jetzt Klarheit, kein Verwischen. Zur Klarheit gehört: Antisemitismus ist in keiner Gestalt zu tolerieren – in keiner.

Robert Habeck, Vizekanzler und Bundeswirtschaftsminister

"Wir können gar nicht empört genug sein"

Der Antisemitismus zeigt sich auf Demonstrationen, er zeigt sich in Äußerungen, er zeigt sich in Angriffen auf jüdische Läden, in Drohungen.

Während es schnell große Solidaritätswellen gibt, etwa wenn es zu rassistischen Angriffen kommt, ist die Solidarität bei Israel rasch brüchig. Dann heißt es, der Kontext sei schwierig. Kontextualisierung aber darf nicht zu Rechtfertigung führen.

Wir haben sicherlich oft zu viel Empörung in unserer Debattenkultur. Hier aber können wir gar nicht empört genug sein. Es braucht jetzt Klarheit, kein Verwischen.

Zur Klarheit gehört: Antisemitismus ist in keiner Gestalt zu tolerieren – in keiner.

Robert Habeck in der ersten Reihe bei der Friedenspreisverleihung 2023

Robert Habeck bei der Friedenspreisverleihung an Salman Rushdie am 22. Oktober in der Frankfurter Paulskirche

Für religiöse Intoleranz ist in Deutschland kein Platz. Wer hier lebt, lebt hier nach den Regeln dieses Landes.

Robert Habeck

Das Ausmaß bei den islamistischen Demonstrationen in Berlin und in weiteren Städten Deutschlands ist inakzeptabel und braucht eine harte politische Antwort. Es braucht diese auch von den muslimischen Verbänden. Einige haben sich klar von den Taten der Hamas und vom Antisemitismus distanziert, haben das Gespräch gesucht. Aber nicht alle, manche zu zögerlich und ich finde, insgesamt zu wenige.

Die hier lebenden Muslime haben Anspruch auf Schutz vor rechtsextremer Gewalt – zurecht. Wenn sie angegriffen werden, muss dieser Anspruch eingelöst werden und das gleiche müssen sie jetzt einlösen, wenn Jüdinnen und Juden angegriffen werden. Und sie müssen sich klipp und klar von Antisemitismus distanzieren, um nicht ihren eigenen Anspruch auf Toleranz zu unterlaufen.

Für religiöse Intoleranz ist in Deutschland kein Platz. Wer hier lebt, lebt hier nach den Regeln dieses Landes. Und wer hierherkommt, muss wissen, dass das so ist und auch so durchgesetzt werden wird.
Unsere Verfassung schützt und gibt Rechte, sie legt Pflichten auf, die von jedem und jeder erfüllt werden müssen. Beides kann man nicht voneinander trennen.

Toleranz kann an dieser Stelle keine Intoleranz vertragen. Das ist der Kern unseres Zusammenlebens in der Republik.

Das heißt: Das Verbrennen von israelischen Fahnen ist eine Straftat, das Preisen des Terrors der Hamas auch. Wer Deutscher ist, wird sich dafür vor Gericht verantworten müssen, wer kein Deutscher ist, riskiert außerdem seinen Aufenthaltsstatus. Wer noch keinen Aufenthaltstitel hat, liefert damit einen Grund, abgeschoben zu werden.

"Rechtsextreme halten sich gerade aus taktischen Gründen zurück"

Der islamistische Antisemitismus darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir auch in Deutschland einen verfestigten Antisemitismus haben: Nur, dass die Rechtsextremen sich zum Teil gerade aus rein taktischen Gründen zurückhalten, um gegen Muslime hetzen zu können.

Die Relativierung des Zweiten Weltkriegs, des Nazi-Regimes als „Fliegenschiss“ ist nicht nur eine Relativierung des Holocausts, sie ist ein Schlag ins Gesicht gegenüber den Opfern und Überlebenden. Alle, die hinhören, können und müssen das wissen.

Der zweite Weltkrieg war ein Vernichtungskrieg gegen Juden, für das Nazi-Regime war die Vernichtung des europäischen Judentums immer Hauptziel.

Und weil unter den Rechtsextremen so manche Putin-Freunde sind: Putin lässt sich mit Vertretern der Hamas und der iranischen Regierung fotografieren und bedauert die zivilen Opfer im Gaza-Streifen, während er zivile Opfer in der Ukraine schafft. Und seine Freunde in Deutschland sind gewiss keine Freunde der Jüdinnen und Juden.

Porträtfoto Robert Habeck

Robert Habeck

Anti-Kolonialismus darf nicht zu Antisemitismus führen. Insofern sollte dieser Teil der politischen Linken seine Argumente überprüfen und der großen Widerstandserzählung misstrauen.

Robert Habeck

"Das „beide Seiten“-Argument führt in die Irre"

Sorge macht mir aber auch der Antisemitismus in Teilen der politischen Linken und zwar leider auch bei jungen Aktivistinnen und Aktivisten. Anti-Kolonialismus darf nicht zu Antisemitismus führen. Insofern sollte dieser Teil der politischen Linken seine Argumente überprüfen und der großen Widerstandserzählung misstrauen.

Das „beide Seiten“-Argument führt in die Irre. Die Hamas ist eine mordende Terrorgruppe, die für die Auslöschung des Staates Israels und den Tod aller Juden kämpft.

Die Klarheit, mit der das wiederum zum Beispiel die deutsche Sektion von Fridays For Future auch in Abgrenzung zu ihren internationalen Freunden konstatiert hat, ist mehr als respektabel.

Als ich in der Türkei war, wurde mir vorgehalten, dass in Deutschland pro-palästinensische Demonstrationen verboten seien. Und dass Deutschland seine humanitären Ansprüche auch auf die Menschen in Gaza übertragen müsse.

Ich machte klar, dass bei uns Kritik an Israel natürlich erlaubt ist. Dass es eben nicht verboten ist, für die Rechte der Palästinenserinnen und Palästinenser und auch ihr Recht auf einen eigenen Staat einzutreten.

Aber der Aufruf zur Gewalt gegen Juden oder das Feiern der Gewalt gegen Juden sind verboten – zurecht!

Der Tod und das Leid, das jetzt über die Menschen im Gaza-Streifen kommt, sind schlimm. Das zu sagen ist so notwendig wie legitim. Systematische Gewalt gegen Jüdinnen und Juden
kann und darf damit dennoch nicht legitimiert werden.

Robert Habeck

"Jedes tote Kind ist eines zu viel"

Ja, das Leben in Gaza ist ein Leben in Perspektivlosigkeit und Armut. Die Siedlerbewegung in der Westbank schürt Unfrieden und nimmt den Palästinensern Hoffnung und Rechte und auch Leben. Und das Leid der Zivilbevölkerung jetzt im Krieg ist eine Tatsache. Eine furchtbare. Jedes tote Kind ist eines zu viel.

Auch ich fordere humanitäre Lieferungen, setze mich dafür ein, dass Wasser, Medikamente und Hilfsgüter nach Gaza kommen, dass Flüchtlinge geschützt werden. Zusammen mit unseren amerikanischen Freunden machen wir Israel immer wieder deutlich, dass der Schutz
der Zivilbevölkerung zentral ist.

Der Tod und das Leid, das jetzt über die Menschen im Gaza-Streifen kommt, sind schlimm. Das zu sagen ist so notwendig wie legitim.

Systematische Gewalt gegen Jüdinnen und Juden
kann und darf damit dennoch nicht legitimiert werden. Antisemitismus kann damit nicht gerechtfertigt werden.

Natürlich muss sich Israel an das Völkerrecht und internationale Standards halten. Aber der Unterschied ist: Wer würde solche Erwartungen an die Hamas formulieren?

Und weil ich kürzlich im Ausland damit konfrontiert wurde, wie der Angriff auf Israel am 7. Oktober als „unglücklicher Vorfall“ verharmlost wurde, ja sogar die Fakten in Frage gestellt wurden, rufe ich hier noch mal in Erinnerung: Es war die Hamas, die Kinder, Eltern, Großeltern in ihren Häusern bestialisch ermordet hat. Deren Kämpfer Leichen verstümmelt haben, Menschen entführt und lachend der öffentlichen Demütigung ausgesetzt haben.

Es sind Berichte des schieren Horrors – und dennoch wird die Hamas als Freiheitsbewegung gefeiert? Das ist eine Verkehrung der Tatsachen, die wir nicht stehen lassen können.

Zur Differenzierung gehört, dass die Mordtaten der Hamas Frieden verhindern wollen. Die Hamas will nicht die Aussöhnung mit Israel, sondern die Auslöschung von Israel.

Robert Habeck

"Die Sicherheit Israels ist unsere Verpflichtung"

Und das bringt mich zum letzten Punkt: Der Angriff erfolgte in einer Phase der Annäherung mehrerer muslimischer Staaten an Israel.

Es gibt die Abraham-Abkommen zwischen Israel und muslimischen Staaten der Region. Jordanien und Israel arbeiten in einem großen Trinkwasserprojekt zusammen. Saudi-Arabien war auf dem Weg, seine Beziehungen zu Israel zu normalisieren.

Aber ein friedliches Miteinander von Israel und seinen Nachbarn, von Juden und Muslimen, die Perspektive einer Zweistaatenlösung – all das wollen die Hamas und ihre Unterstützer, insbesondere die iranische Regierung nicht. Sie wollen es zerstören.

Wer die Hoffnung auf Frieden in der Region nicht aufgegeben hat, wer am Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat und eine wirkliche Perspektive festhält – und das tun wir –, der muss jetzt in diesen Wochen der Bewährung differenzieren.

Zur Differenzierung gehört, dass die Mordtaten der Hamas Frieden verhindern wollen. Die Hamas will nicht die Aussöhnung mit Israel, sondern die Auslöschung von Israel.

Und deshalb gilt, unverrückbar: Das Existenzrecht Israels darf nicht relativiert werden. Die Sicherheit Israels ist unsere Verpflichtung. Deutschland weiß das.