Lesemotive ziehen ins VLB ein

Premierenstimmung mit Künstlicher Intelligenz

22. Juli 2021
Redaktion Börsenblatt

Die frisch entwickelten Lesemotive stehen vor dem Praxistest: Alle Titel im VLB werden derzeit der neuen Klassifikation zugeordnet – mithilfe von Künstlicher Intelligenz. Branchenexpert*innen füttern und prüfen das lernende System. Wie das geht? Mehr dazu hier.

Ein neuer Klassifikationsstandard hält Einzug in das Verzeichnis Lieferbarer Bücher (VLB): die Lesemotive. Als Ergänzung zu Warengruppen und Thema-Klassifikation eröffnen die Lesemotive neue Möglichkeiten bei der Vermarktung von Büchern. Denn sie zielen auf die unbewussten Bedürfnisse ab, die Menschen zum Buchkauf bewegen: etwa die Lust am Lachen, am Entdecken, am Nervenkitzel (mehr zu den Lesemotiven hier). Das soll für zusätzliche Orientierung im Buchmarkt und für neue Kauf-impulse sorgen.

Das Unternehmen QualiFiction, 2019 von der Börsenvereinsgruppe zum Start-up des Jahres gekürt, hilft dabei, alle in der Metadatenbank erfassten Titel den passenden Lesemotiven zuzuordnen – automatisiert mit künstlicher Intelligenz (KI).

Swantje Meininghaus (Nordbuch) und Tobias Streitferdt (Holtzbrinck) haben den Prozess intensiv begleitet, zusammen mit sieben weiteren Branchenexpert*innen (mehr dazu weiter unten). Hier berichten die beiden von ihren Erfahrungen beim Training des KI-Systems.

Welche Rolle hatten Sie im Trainingsprozess der künstlichen Intelligenz?
Streitferdt: Als Metadatenmanager der Holtzbrinck Buchverlage habe ich einen ganz guten Überblick über die Metadaten von rund 30 000 lieferbaren Büchern. Gemeinsam mit den anderen Expert*innen habe ich für insgesamt 4 500 Titel die Lesemotive nach einer sehr gründlichen Schulung vergeben. Wir begannen zunächst mit Büchern, die wir entweder gelesen hatten oder gut kannten, bemerkten aber bald, dass für bestimmte Lesemotive auch ein oberflächlicher Blick auf die wichtigsten Metadaten ausreicht – wie Titel, Cover, Beschreibungstext.
Meininghaus: Ich habe meine Handelsperspektive als Verantwortliche für den Zentrallagereinkauf für alle 65 Nordbuch-Buchhandlungen in die Branchenrunde eingebracht. Mit der manuellen Zuordnung zahlreicher Titel haben wir die inhaltliche Grundlage für die Arbeit der KI geschaffen.

Der Algorithmus ist sehr zuverlässig. 90 bis 95 Prozent der Zuordnungen sind treffsicher.

 

Swantje Meininghaus, Geschäftsführerin bei Nordbuch

Warum ist maschinelle Unterstützung bei der Zuordnung überhaupt nötig?
Streitferdt: Im VLB sind rund 2,5 Millionen lieferbare Bücher verzeichnet. Wenn man pro Buch nur fünf Minuten investieren würde, wären selbst 100 Personen ungefähr ein Vierteljahr lang damit beschäftigt, von morgens bis abends Lesemotive zu vergeben, noch dazu mit unterschiedlichen persönlichen Erfahrungen und Einschätzungen.
Meininghaus: Wir brauchen die ­zusätzliche Orientierung und die neuen Kaufimpulse aber lieber heute als morgen.

Wie zuverlässig ist der Algorithmus?
Meininghaus: Sehr zuverlässig. 90 bis 95 Prozent der Zuordnungen sind treffsicher.
Streitferdt: "Falsch" zugeordnet wurden meistens Titel, die entweder widersprüchliche Metadaten haben oder im Inhalt zwischen verschiedenen Lesemotiven changieren. Bei diesen Büchern würde die Anpassung der Metadaten das Ergebnis vermutlich künftig verbessern.
Meininghaus: Hinzu kommt, dass der KI-Prozess ja ein dynamischer ist. Je mehr Titel von der KI zugeordnet werden, desto besser werden die Ergebnisse.

Die Lesemotive geben uns die Chance, gerade Weniglesern einen einfacheren Zugang zu Lesestoff zu ermöglichen

Tobias Streitferdt, Metadaten & E-Commerce, Holtzbrinck Buchverlage

Was erhoffen Sie sich vom neuen Standard für die Branche?
Streitferdt: Die Lesemotive müssen ihre Tauglichkeit im Handel beweisen. Sie geben dem Sortiment und dem Marketing die Chance, gerade Weniglesern, die sich in den heute gängigen Genres im Buchhandel nicht mehr zurechtfinden, einen weiteren, einfacheren Zugang zu Lesestoff zu ermöglichen. Wenn das funktioniert und mehr Umsätze dadurch generiert werden können, bin ich überzeugt, dass sich viele Verlage künftig bei ihrer Programmplanung sowie Metadatenerstellung an den neuen Lesemotiven orientieren werden.
Meininghaus: Ich erhoffe mir davon, dass wir als Branche die Sicht der Leserinnen und Leser – und nicht so sehr der Buchhändlerinnen und Buchhändler – mehr wertschätzen und in den Mittelpunkt unseres Tuns stellen. Dazu gehört zum Beispiel auch die Aufwertung des am weitesten verbreiteten Lesemotivs »Leichtlesen«, über das in der Branche oft erst einmal mit einer gewissen Arroganz die Nase gerümpft wird. Natürlich wünsche ich mir auch, dass Bücher keine Mogelpackung mehr sind. Umschlag und Klappentext müssen sich kongruent zum Inhalt verhalten. Und dass wir auf diese Art Leserinnen und Leser, die gern wollen, aber nicht finden, was sie suchen, in die Buchhandlungen zurückholen.

Lesemotive im VLB

Was sind die Lesemotive?
Die Lesemotive sind ein neuer Klassifika­tionsstandard, der Leser*innen mehr Orientierung auf dem Buchmarkt bieten soll, weil er die unbewussten Gründe für einen Buchkauf in den Fokus nimmt. Grundlage ist die neurowissenschaftliche Marktforschungsstudie »Bewusst unbewusst: Vom verborgenen Lesemotiv zum Kaufimpuls« der Gruppe Nymphenburg Consult. Mehr unter www.lesemotive.de, eine Übersicht mit den zehn zentralen Lesemotive folgt weiter unten.

Wie kommen die Lesemotive ins VLB?
Eine künstliche Intelligenz ordnet allen Titeln in der Metadatenbank fortlaufend und automatisiert Lesemotive zu, validiert von einem Gremium aus Branchenexpert*innen (blaue Infobox). Sie bildet den Erfahrungsschatz derjenigen ab, die sie trainiert haben. Für das permanent lernende System gilt:
»Viel Training hilft viel.« Alle Infos zur Integration der Lesemotive ins VLB inklusive FAQ gibt es unter www.vlb.de/lesemotive.

Wer hat die Künstliche Intelligenz trainiert?

  • Ramona Böhm (Penguin Random House)
  • Kathrin Claussnitzer (Hugendubel)
  • Anniko Güte (Loewe Verlag)
  • Chantal Holzknecht (Buchhandlung Reuffel)
  • Stephanie Lange (Vertriebsberatung)
  • Swantje Meininghaus (Nordbuch)
  • Dorette Peters (Penguin Random House)
  • Tobias Streitferdt (Holtzbrinck)
  • Antje Werner (Dussmann)

Wann geht es los?

  • August: Voransicht der zugeordneten Lesemotive für teilnehmende Verlage aus der Taskforce Orientierungssystem, dem VLB-Fachbeirat und der IG Produkt­metadaten des Börsenvereins
  • September: Voransicht der zugeordneten Lesemotive für alle Verlage, erste Vorabdaten für Datenabnehmer
  • ab Oktober: allgemeine Freischaltung der Lesemotive im VLB

Wie können Verlage Feedback geben?
Entspricht ein zugeordnetes Lesemotiv nicht den Erwartungen, dann sollten Verlage zunächst die zugrunde liegenden Metadaten prüfen. Im zweiten Schritt können sie eine Alternative vorschlagen – mit konkreten Anhaltspunkten, warum sie ein anderes Lesemotiv erwarten. Das Ergebnis der Überprüfung fließt ins KI-Training ein, zugeordnete Lesemotive können aber nicht manuell überschrieben werden.

Welche Lesemotive gibt es - und welche sind besonders wichtig für die Leserinnen und Leser?*

  • Leichtlesen: 19 %
    (Kundenbedürfnis nach einfacher Sprache und niedriger Komplexität)
  • Entspannen: 16 %
    (Kundenbedürfnis nach Rückzug, der ausgleichend wirkt)
  • Eintauchen: 15 %
    (Kundenbedürfnis nach anderen, auch fiktiven Welten, die aus dem Alltag entführen)
  • Lachen: 15 %
    (Kundenbedürfnis nach Heiterkeit, vom Schmunzeln bis hin zu Spaß pur)
  • Entdecken: 7 %
    (Kundenbedürfnis nach Unbekanntem, das Lust auf Neues macht und inspiriert)
  • Verstehen: 7 %
    (Kundenbedürfnis nach der Erklärung von Zusammenhängen - oder Pflichtpflichtlektüre, zum Beispiel für Schule und Studium)
  • Optimieren: 5 %
    (Kundenbedürfnis nach Leistungsverbesserung,
    die zu persönlichem Erfolg führt)
  • Nervenkitzeln: 3 %
    (Kundenbedürfnis nach Spannung, die einen mitfiebern lässt)
  • Auseinandersetzen: 2 %
    (Kundenbedürfnis nach gesellschaftskritischen und/oder provokanten Inhalten – auch, um damit ein Statement zu setzen)
  • Orientieren: 2 %
    (Kundenbedürfnis nach Sicherheit, die sich auf Wissen stützt)

*Prozentangaben: Rangfolge, wie wichtig den Verbraucher*innen die einzelnen Lesemotive sind (Quelle: Gruppe Nymphenburg Consult)

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