Woche der Meinungsfreiheit

Kein Streit über Politik? Das können wir uns nicht mehr leisten!

8. Mai 2024
Nils Kahlefendt

Engagiertes Streiten, differenziertes Argumentieren – das war bei einer Diskussionsrunde in der Dresdner Frauenkirche Forderung wie gelebte Praxis. Börsenblatt-Korrespondent Nils Kahlefendt berichtet von der Veranstaltung zur Woche der Meinungsfreiheit. 

Dresdner Lokalkolorit: Traditionsreiche Frauenkirche und davor, auf einem Straßenschild, ein Aufkleber, der die von demokratischen Parteien beschworene "Brandmauer" gegenüber dem rechten politischen Spektrum als "Schandmauer" bezeichnet

 Pfarrer Markus Engelhardt, Frauenkirche Dresden

In der DDR war der 8. Mai, an dem 1945 Hitler Wehrmacht bedingungslos kapitulierte, zeitweise ein Feiertag, an dem des Sieges über den Nationalsozialismus und des Endes des Zweiten Weltkriegs gedacht wurde. Ältere Semester des in der Dresdner Frauenkirche zahlreich zusammengekommen Publikums haben das noch erlebt. In der Bundesrepublik wurde erst nach der Bundestags-Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker vom 8. Mai 1985 verstärkt darüber diskutiert, ob der 8. Mai für die totale militärische Niederlage Deutschlands oder für seine Befreiung vom Nationalsozialismus stehe. Den Vorabend dieses bedeutenden Siegs der Demokratie über die Diktatur nahm der Börsenverein zum Anlass, in der Frauenkirche den Höhepunkt der diesjährigen "Woche der Meinungsfreiheit" zu begehen – mit einer prominent besetzten Gesprächsrunde zu den wohl drängendsten politischen Fragen unserer Gesellschaft, zum Stand von Vielfalt, Dialog und Miteinander und nachdenkend über die individuelle Verpflichtung eines jeden Einzelnen: Wählen zu gehen, einzustehen für Demokratie und Freiheit in Europa. Der Börsenverein zog damit bewusst von der Frankfurter Paulskirche in die Frauenkirche – die, wie ihr Pfarrer Markus Engelhardt, als Co-Geschäftsführer der Stiftung Frauenkirche Dresden auch einer der Gastgeber des Abends, betonte, schon immer "mehr als ein reines Gotteshaus" war, in dem die Dinge der res publica verhandelt wurden.  

Publizist Michel Friedman

Seit 50 Jahren höre ich: Wehret den Anfängen! Es wird schon gut gehen – das funktioniert nicht mehr.

Michel Friedman, Publizist

Angriff auf Ecke allgegenwärtig

Überschattet wurde der Abend natürlich vom brutalen Überfall auf den SPD-Politiker Matthias Ecke, der – wie kurz darauf ein Wahlkampfhelfer der Grünen – am vergangenen Freitag in Dresden-Striesen brutal zusammengeschlagen wurde. Kommen jetzt Weimarer Verhältnisse, sind sie schon da? Die Tat wühlt ein ganzes Land auf, in Dresden ist sie Stadtgespräch – am Samstag demonstrierten rund 3000 Menschen am Dresdner Pohlandplatz, in unmittelbarer Nähe des Tatorts, für Demokratie und gegen Gewalt. Noch immer geschockt, aber auch sehr bestimmt und klar zeigte sich Sachsens Wirtschaftsminister Martin Dulig bei seinem Grußwort; sein langjähriger Büroleiter Eckel ist ein guter Freund. Auch Dulig war am Sonntag auf der Demo am Pohlandplatz, der Grundton dort in Moll: "Es hätte auch mich treffen können." Was aber folgt daraus? Wer, bitte, löst das Problem? "Was wir jetzt brauchen", so Dulig, "ist eine Kultur des Widerspruchs im Privaten". Bislang hieß es oft – und nicht nur in Sachsen – an Kaffeetisch oder Werkbank oder im Sportverein: Keine Politik! "Das können wir uns nicht mehr leisten!"

Der Angriff auf Politiker von SPD und Grünen, zeigte sich auch Peter Kraus vom Cleff, Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins, überzeugt, sollte nicht einzelne Köpfe treffen – er zielte aufs "Herz unserer Demokratie". Zu den weltweit rund vier Milliarden Menschen, die heuer weltweit zu wichtigen Wahlen aufgerufen sind, zählen hierzulande auch Jugendliche ab 16 Jahren. Die mutmaßlichen Schläger von Dresden, über die jetzt mehr und mehr Details ans Licht kommen, sind junge Männer im Alter von 17 und 18 Jahren; sie kommen nicht aus abgehängten Plattenbausiedlungen, sondern aus bürgerlich-saturierten Wohngegenden.

Sachsens Wirtschaftsminister Martin Dulig

Was wir jetzt brauchen, ist eine Kultur des Widerspruchs im Privaten.

Martin Dulig, Sachsens Wirtschaftsminister (SPD)

Was können wir für die Demokratie tun?

Die von Michel Friedman mitkonzipierte, vom ehemaligen Spiegel- und jetzigen MDR-Mann Klaus Brinkbäumer konzipierte Runde im fast gegenläufig zur Stimmung in der Stadt festlich strahlenden, imposanten Kirchenschiff ging dann ins Grundsätzliche. Die Fragen, die sich fast zwangsläufig stellen, sind ernst genug: Ist unsere Demokratie in Gefahr? Und wenn ja – was können wir, Politik, Medien, die Bürgergesellschaft, tun? Und was, bitte, hat das Ganze mit Sprache zu tun?

Nur noch 45,7 Prozent der Weltbevölkerung, so die Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff, leben heute in Demokratien – davon allerdings nur 7,8 Prozent wie derzeit Deutschland in so genannten "vollständigen Demokratien". Noch vor zehn Jahren sei das anders gewesen, der Wind hat sich auf Grund der multiplen Krisen der letzten Jahre, von Migration über Corona bis zum Ukraine-Krieg, gedreht. Am stärksten unter Druck: Das Demokratie-Merkmal Meinungsfreiheit. "Es gibt den Moment nicht mehr", so Deitelhoff, "wo eine Krise 'offiziell' für beendet erklärt wird. Immer mehr Menschen haben die Empfindung, dass 'die da oben' es nicht gebacken kriegen." Das Strafrecht, so die Konfliktforscherin, ziehe nur eine "äußere Grenze" – es gebe aber eine "innere Grenze" dessen, was wir nicht mehr tolerieren wollen. "Wenn sich Politiker nicht mehr als 'Gegner', sondern als 'Feinde' sehen, sei jene Grenze überschritten: "Demokratie ist anstrengend. Sie ist keine Sommerparty."

Facebook-Posts von Matthias Ecke und Franziska Giffey. Beide Politiker wurden kürzlich tätlich angegriffen und verletzt.

Immer mehr Menschen haben die Empfindung, dass 'die da oben' es nicht gebacken kriegen.

Nicole Deitelhoff, Politikwissenschaftlerin

Blinde Flecken der Demokratie

Die Schriftstellerin Anne Rabe ("Die Möglichkeit von Glück") nahm die in den letzten Tagen oft gehörte Rhetorik der "völlig neuen Dimension von Gewalt" aufs Korn: "Es ist keine neue Dimension, sondern seit 30 Jahren traurige Realität." Rabe kritisierte die oft hilflosen Floskeln der Politik auf der einen, unterfinanziert im Regen stehen gelassene zivilgesellschaftliche Initiativen auf der anderen Seite, ohne dabei konkreter zu werden. Noam Petri, Vizevorsitzender der jüdischen Studierendenunion und bekennendes FDP-Mitglied, ist den Demokratie-Demos der letzten Wochen ferngeblieben – nicht, weil er sie nicht wichtig finden würde, sondern: Aus Wut. "Die bundesweiten Demos waren der Beweis, dass sich Menschen mobilisieren lassen. Aber nur selektiv!" Als etwa nach den Aufzügen von mehr als 1000 Islamisten in Hamburg die Kurdische Gemeinde der Hansestadt zur Gegendemo aufrief, war die Teilnahme beschämend gering. Petri beklagt angesichts dessen Doppelmoral: "Es gibt ein selektives 'Nie wieder!' in Deutschland."

Während Michel Friedmann eine nur sehr oberflächliche Verankerung demokratischen Gedankenguts in unserer Gesellschaft in Bausch und Bogen beklagte ("Protestwähler ist ein Entlastungsbegriff, die Leute wissen, wo sie ihr Kreuz machen!"), differenzierte die 1988 im sächsischen Freiberg geborene Zeit-Online-Chefin Anne Hähnig: "Es waren immer Leute gegen Pegida auf der Straße." Allerdings ist Hähnig Realistin genug, um zu wissen: "Es ist schwierig, für etwas auf die Straße zu gehen, was, wie unsere Demokratie, einfach da ist." Hähnig war es auch, die eine Tatsache genauer in den Blick zu nehmen forderte: Diejenige, dass Autoritäre nicht vom Himmel fallen, sondern überwiegend demokratisch gewählt werden: "Wir kommen also nicht umhin, uns zu fragen: Wo haben die einen Punkt? Und wo hat unsere Demokratie womöglich blinde Flecken?"

Schriftstellerin Anne Rabe

Es ist schwierig, für etwas auf die Straße zu gehen, was, wie unsere Demokratie, einfach da ist.

Anne Hähnig, Zeit Online

Peter Kraus vom Cleff, Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins. Der Verband hat die Woche der Meinungsfreiheit 2020 initiiert.

Jedes Wahljahr Schicksalsjahr

Ist 2024 nun ein Schicksalsjahr für die Demokratie? Nicole Deitelhoff ist überzeugt, dass "jedes Wahljahr ein Schicksalsjahr" ist. Auf die AfD zu starren, wie das Kaninchen auf die notorische Schlange, helfe niemandem: "Wir müssen mit allen reden, deren Position uns nicht passt." Merke: Meinungsfreiheit wird nicht nur par ordre du mufti, sondern auch von unten eingeschränkt. Womit wir wieder bei Michel Friedman wären, der gestenreich und voller Feuer den Abend über weite Strecken an sich riss, selbst der beste Moderator konnte da kaum mehr als Stichwortgeber sein. (Friedmanns Text "Streiten? Unbedingt! Ein persönliches Plädoyer" ist anlässlich der Woche der Meinungsfreiheit von der Büchergilde zwischen schöne Buchdeckel gebracht worden und konnte von den Besuchern quasi als Essenz des Abends nach Hause getragen werden). Friedman, daran ließ der streitbare Publizist nicht den Rest eines Zweifels, ist nicht bereit, uns, die Bürger, aus unserer individuellen Verantwortung zu entlassen. "Es braucht harten Streit. Die demokratischen Parteien streiten zu wenig. Entweder packen wir das, oder... Es geht darum, ob ein Mensch wie ich hier leben, atmen kann." Es war der Jurist Friedman, der einen Begriff wie "Generalprävention" ins Spiel brachte, die Forderung nach einem Rechtsstaat, der weder auf dem rechten, noch auf dem linken Auge blind ist und klare Ansagen macht. "Seit 50 Jahren", so Friedman, "höre ich: Wehret den Anfängen!" Solche rhetorischen Entlastungen funktionierten nicht mehr. Es gehe um mehr als die Frage, wer jetzt mal ein paar Jahre regiere. "Es wird schon gut gehen – das funktioniert nicht mehr." Und noch einmal ein Plädoyer für die harte Auseinandersetzung in der Sache, der keiner ausweichen kann: "Streit ist der Sauerstoff des Fortschritts."

Video des Gesprächs