Grußwort zur Leipziger Buchmesse

Karin Schmidt-Friderichs: "Die erste Aufmerksamkeitsdusche für die Frühjahrsnovitäten"

26. April 2023
Redaktion Börsenblatt

Bei der Eröffnung der Leipziger Buchmesse im Gewandhaus betonte Börsenvereins-Vorsteherin Karin Schmidt-Friderichs angesichts der Weltlage, wie wichtig Demokratien für die freie Meinungsäußerung sind und würdigte den Beitrag von Buchmessen zur Debattenkultur. Aber auch das: "Hier lebt Leselust", Kinder kämen auf der Messe mit "Geschichtenglück" in Berührung.

Die Vorsteherin gratuliert Marija Stepanowa, zum Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung

Wenn uns ein Autor oder eine Autorin dystopischer Szenarien 2019 an dieser Stelle erzählt hätte, dass die folgenden drei Leipziger Buchmessen einer weltweiten Pandemie zum Opfer fallen würden – wir hätten die Köpfe geschüttelt und wären zum freudigen Tagesgeschehen des Bücher-Feierns übergegangen.  

Und doch: Drei Mal haben Oliver Zille und sein engagiertes Team Anlauf genommen. Drei Mal mussten sie auf der Zielgeraden stoppen.

Ich möchte an dieser Stelle Ihnen, lieber Herr Zille, aber auch allen, die mit Ihnen gekämpft haben, sagen, wie sehr wir alle und ich persönlich mit Ihnen gefühlt haben – und wie riesig wir uns alle freuen, heute Abend hier im Gewandhaus die Eröffnung der Leipziger Buchmesse zu FEIERN!

Was aber hat denn nun vor allem anderen gefehlt in diesen drei Jahren?

Die Leipziger Buchmesse ist klassisch der erste große Höhepunkt im Bücherjahr, die erste Aufmerksamkeitsdusche für die Frühjahrsnovitäten und ein riesiges Lesefest. Sie verströmt Buchbegeisterung vom Messegelände bis in die Kneipen der Stadt am Abend.

Sie ist aber auch ein Garant für Vielfalt. Vielfalt der Programme, der Meinungen, Standpunkte. Eine Chance für kleine unabhängige Verlage, die es im Handel klassisch schwerer haben. Eine Chance für Newcomer, die wir wie jede Branche so nötig brauchen.

Warum ist mir, ist dem Börsenverein diese Vielfalt so elementar wichtig?

Rein auf die Zahlen blickend könnte man antworten: Weil 80 Prozent der Verlage in Deutschland kleine Verlage sind, mit einem Umsatz von bis zu 1 Million Euro. Das ist aber zu kurz gedacht.

Vor 175 Jahren gingen mutige Menschen in Deutschland nach dem Vorbild der französischen Revolution auf die Barrikaden. Unter erheblichen Risiken für Leib und Leben kämpften sie für eine demokratische Verfassung. Und auch wenn die Paulskirchen-Verfassung dann nur kurz Bestand hatte, ist sie doch die Grundlage für das viel später – und nach dunkelsten Kapiteln deutscher Geschichte – erlassene Grundgesetz.

Gegen diese Verfechter von Demokratie und einem geeinten Deutschland ging die Obrigkeit mit Waffengewalt vor. "Gegen Demokraten helfen nur Soldaten", lautete das Ceterum Censeo von König Friedrich Wilhelm IV, dem alten Hohenzollern.

 

Demokratie ist die einzige Staatsform, in der Menschen unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Bildung und sexueller Orientierung die gleichen Rechte zuteilwerden, alle ihre Meinung frei äußern können und die Macht vom Volk ausgeht.

Karin Schmidt-Friderichs

Was aber hilft einer Demokratie? 

Damals war es nicht nur das französische Vorbild. Auch die erstarkende Presse – unter anderem durch technisch möglich gewordene Schnelldruckpressen –, verbesserte Kommunikation – unter anderem durch Telegrafenverbindungen –, und eine vitale Buchszene – unter anderem durch Buchmessen – trugen dazu bei, die Menschen aufzuklären, es ihnen zu ermöglichen, sich eine eigene Meinung zu bilden und debattenfähig zu werden.

In diesem Zusammenhang zwei Daten: 1825 – 23 Jahre vor 1848 wurde der Börsenverein hier in Leipzig gegründet, 1834 erschien das erste Börsenblatt des Deutschen Buchhandels.

Heute halten wir unsere freiheitlich demokratische Grundordnung für so sicher, wie wir 2019 in diesem Saal die Leipziger Buchmessen der Folgejahre einschätzten.

Fakt aber ist: Erstmals seit 2004 verzeichnet der Bertelsmann Transformationsindex (BTI) mehr autokratische als demokratische Staaten auf der Welt. Von 137 untersuchten Ländern sind nur noch 67 Demokratien, die Zahl der Autokratien stieg auf 70.

67 zu 70: Demokratien sind mittlerweile in der Unterzahl.

Immer mehr Demokratien werden von autoritären Staatenlenkern wie Wladimir Putin bewusst verhöhnt und ausgehöhlt.

Demokratie ist anstrengend. Demokratie ist kompliziert. Demokratie ist keine Garantie für individuelles Glück.
 
Demokratie ist aber die einzige Staatsform, in der Menschen unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Bildung und sexueller Orientierung die gleichen Rechte zuteilwerden, alle ihre Meinung frei äußern können und die Macht vom Volk ausgeht. Die Staatsform auch, in der Kunst und Kultur frei gedeihen. Wir sollten also alles Menschenmögliche tun, die Demokratie zu stabilisieren.

Hier lebt Leselust. Kaum ein Kind – selbst solche, die zuhause Bücher kennen – kommt hier nicht mit Geschichtenglück in Berührung.

Karin Schmidt-Friderichs

Und damit sind wir wieder in Leipzig:

In den nächsten Tagen werden in den Messehallen und in der ganzen Stadt Bücher vorgestellt, Lebenskonzepte und Denkmodelle, es werden Debatten angestoßen und Diskussionen geführt und bei all dem können sich Menschen Meinungen bilden – das ist eine Selbstverpflichtung, die auf der Meinungsfreiheit fußt, einem Grundrecht, auf das wir ab kommendem Mittwoch wieder mit der "Woche der Meinungsfreiheit" bundesweit ein Schlaglicht werfen.

Die Welt verstehen, sich eine Meinung bilden: All das können Menschen aber nur, wenn sie lesen können und lesen wollen. Und beides ist nicht selbstverständlich.

Wenn ein Fünftel der Grundschulabsolvent:innen funktional nicht lesen kann, wenn die soziale Herkunft einen wachsenden Einfluss auf die Lesekompetenz hat, und das in einem der reichsten Länder der Erde, dann kann ich nur sagen: hier hat die Politik versagt!

Denn Lesen ist Grundlage von Teilhabe und wirtschaftlichem Erfolg, nicht nur des Individuums, sondern der ganzen Gesellschaft.

Sehr geehrte Politiker:innen auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene, machen Sie sich bewusst, dass hier etwas ganz und gar im Argen liegt! Und handeln Sie!

Wie Vermittlung von Lese- und Buchbegeisterung niedrigschwellig funktioniert, zeigt die Leipziger Buchmesse. Ein weiterer Grund, warum es so gut ist, dass die Messe zurück ist. Hier lebt Leselust. Kaum ein Kind – selbst solche, die zuhause Bücher kennen – kommt hier nicht mit Geschichtenglück in Berührung. Und näht bestenfalls seit Monaten an seinem Cosplay-Kostüm.

Alles gut also hier in Leipzig?

Wie kann es, wenn 1.500 Kilometer entfernt in Leipzigs Partnerstadt Kiew Krieg herrscht? Wir sagen immer, seit 14 Monaten. De facto aber greifen russische Soldaten seit neun Jahren Ukrainer:innen an. Putin hat schon sehr früh in seiner dritten Amtszeit der Ukraine als demokratischer Nation und als Kultur den Kampf angesagt – wir, der Westen haben nicht gut hingeschaut.

"Gegen Demokraten helfen nur Soldaten" – das ist 175 Jahre nach Friedrich Wilhelm IV auch die Devise von Wladimir Putin.

Wir stehen als Branche an der Seite der Ukraine. Durch zahlreiche Initiativen und das große Engagement Vieler versuchen wir, praktische und finanzielle Unterstützung zu leisten, der Ukraine und ihrer Buchbranche Sichtbarkeit zu verleihen, und ihre Bücher durch Übersetzungen der Welt weiter zugänglich zu machen.

Wir zeigen unsere Solidarität und versuchen, den Autor:innen, Verleger:innen und Buchhändler:innen Mut zuzusprechen.

Wir bieten ukrainischen – ebenso wie exilrussischen Stimmen – eine Plattform.

Wie etwa Serhij Zhadan, dem wir in der Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verleihen durften. Oder wie Marija Stepanowa, die wir heute mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ehren.

Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und unser aller Entsetzen über Krieg in Europa darf uns aber die Augen nicht verschließen lassen

  • vor dem, wogegen mutige iranische Frauen auf die Straßen gehen …
  • vor dem, wofür in China drastische Gefängnisstrafen drohen …
  • vor einer Welt, in der das Recht auf freie Meinungsäußerung in vielen Ländern mit Füßen in Stahlkappenschuhen getreten wird.

Und doch möchte ich schließen mit einer Nachricht, die Mut macht. Sie entstammt wieder dem lesenswerten Bertelsmann Transformations Index.
 
Ich zitiere:

"Weltweit widersetzen sich Zivilgesellschaften autoritären Trends. Oft gerade dort, wo Regierungen in der Pandemie versagten, zeigte sich eine bemerkenswerte Stärke bürgerschaftlichen Engagements und gesellschaftlicher Solidarität, die staatliche Versorgungslücken zu überbrücken halfen.

Zivilgesellschaftliche Akteur*innen sind häufig die letzte Bastion im Kampf gegen Autokratisierung, wie etwa in Belarus, Myanmar und im Sudan. Sie forderten mit Vehemenz überfällige gesellschaftliche Reformen ein, etwa größere soziale Inklusion in Chile, oder stemmten sich erfolgreich gegen Korruption und Amtsmissbrauch wie in Bulgarien, Rumänien oder Tschechien.

Die größten Impulse für demokratische Innovation und Erneuerung gehen derzeit weitaus seltener von Regierungen als von kritischen Zivilgesellschaften aus.“

Soweit der Transformations-Index. Und ich möchte ergänzen:

Oder von Buchmessen wie der, die wir heute hier eröffnen.

Ich danke Ihnen!