Friedenspreisverleihung an Amartya Sen

"Die Pandemie des Autoritarismus"

18. Oktober 2020
Sabine Cronau

Vordenker einer gerechteren Welt: Der indisch-amerikanische Ökonom und Philosoph Amartya Sen ist am 18. Oktober in der Frankfurter Paulskirche mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet worden. Eine Preisverleihung, bei der es in erster Linie um die Demokratie und gleich in doppelter Hinsicht um Pandemien ging.

Der Preisträger, 86, nahm per Videoschalte aus Boston am Festakt teil. Sein Laudator, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, konnte die Preisverleihung ebenfalls nur aus der Ferne verfolgen, weil er sich seit Samstag in Corona-Quarantäne befindet – und auch aufs Publikum musste der Friedenspreis in diesem Jahr verzichten. Trotzdem fand der Festakt statt, live übertragen in der ARD. Zeichen der Kontinuität bei einer Buchmesse, bei der nichts so ist wie sonst.

 

Es gibt in diesen Zeiten keine Normalität. Und doch ist es gut, dass wir an dieser Preisverleihung festhalten.

Aus der Laudatio von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier

„Die Hallen der Buchmesse verwaist, die Paulskirche fast menschenleer, der Friedenspreisträger auf einem anderen Kontinent – das sind wahrhaft ungewöhnliche Zeiten. Zeiten, die das Herz schwer machen“: So formulierte es der Bundespräsident in seiner Rede, die von Schauspieler Burghart Klaußner vorgelesen wurde: „Es gibt in diesen Zeiten keine Normalität. Und doch ist es gut, dass wir an dieser Preisverleihung festhalten“, so Steinmeier.

Mit Preisträger Amartya Sen werde ein großer „public intellectual“ geehrt, ein Mensch, der wie kein anderer verbunden sei mit der Idee der globalen Gerechtigkeit: „Die Suche nach Gerechtigkeit und Freiheit darf gerade unter dem Druck der Corona-Pandemie keine Pause machen“, betonte Steinmeier: „Wer wäre für diese Suche ein besserer Expeditionsleiter als der heutige Preisträger.“

Krisen, so Steinmeier weiter, seien nie der große Gleichmacher gewesen, als die sie gerne beschrieben würden: „Krisen vertiefen Spaltungen“. Die Corona-Pandemie treffe zwar alle Menschen und Staaten, aber sie treffe nicht alle gleich: „Die Corona-Pandemie ist eine Nagelprobe für internationale Solidarität und weltweite Kooperation in Forschung und Politik. Nirgends kristallisiert sich das so deutlich wie in der Frage nach einer gerechten weltweiten Verteilung eines Impfstoffes“, so Steinmeier: „Lassen Sie uns alles daran setzen, dass die Menschheit diese Probe ihrer Menschlichkeit besteht!“.

Amartya Sen, der schon mit 22 Jahren seine erste Professur in Kalkutta bekam und 1998 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet wurde, schreibe an gegen die Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten dieser Welt, sagte Steinmeier: „Sein Human Development Index betrachtet nicht nur das Bruttoinlandsprodukt, er schaut auf das Wohlergehen der Menschen. Denn eine Gesellschaft, so sagt Sen, kann ökonomisch höchst effizient, aber vollkommen abscheulich sein.“

Wir hatten nicht nach dem Preisträger des Coronajahres gesucht, wir hatten ihn einfach gefunden.

Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins

Als „Vordenker in Fragen der Verteilungsgerechtigkeit, als Feminist und Weltenbürger“ würdigte auch Börsenvereinsvorsteherin Karin Schmidt-Friderichs den Friedenspreisträger. Als sich der Stiftungsrat des Friedenspreises am 6. April dieses Jahres erstmals getroffen habe, sei es durchaus ein Thema gewesen, ob Corona bei der Wahl des diesjährigen Preisträgers eine Rolle spielen sollte. Das Gremium habe sich jedoch dafür entschieden, dieselben Kriterien anzulegen wie seit der Gründung des Preises.

Je tiefer sie dann in das Werk von Amartya Sen eingetaucht sei, so die Vorsteherin, desto sicherer habe sie gewusst: „Wir hatten nicht nach dem Preisträger des Coronajahres gesucht, wir hatten ihn einfach gefunden.“ Sen zu lesen sei für sie zum Radar und Resonanzraum in diesem Jahr geworden, das von Unsicherheit und Nichtwissen geprägt gewesen sei, so die Vorsteherin: „Er gab mir zunehmend die Gewissheit, dass ein `Back to Normal´ nicht möglich und nicht wünschenswert ist.“

Die Welt ist heute mit einer Pandemie des Autoritarismus konfrontiert, die das menschliche Leben auf je unterschiedliche, aber zusammenhängende Weise in Mitleidenschaft zieht.

Amartya Sen, Friedenspreisträger 2020

Eine Pandemie spielte auch in der Dankesrede des Preisträgers eine Rolle – aber ihm ging es um eine andere Krankheit: "Die Welt ist heute mit einer Pandemie des Autoritarismus konfrontiert, die das menschliche Leben auf je unterschiedliche, aber zusammenhängende Weise in Mitleidenschaft zieht.“

Es gebe immer mehr Länder, in denen autoritäre Entwicklungen "die Freiheit zu widersprechen" schwieriger, oft viel schwieriger, machen würden als früher: "Die repressiven Tendenzen in vielen Ländern der heutigen Welt – insbesondere in Asien, in Europa, in Lateinamerika und innerhalb der Vereinigten Staaten von Amerika – geben Anlass zur Sorge", so Sen: "Mein eigenes Land, Indien, gehört ebenfalls in diesen beklagenswerten Korb.“ 

Sen mahnte eindringlich vor nationalem Kleingeist: „Angesichts unserer globalen Verbindungen und der Bedeutung unseres gemeinsamen Menschseins gibt es allen Grund, uns nicht nur um unser eigenes Land, sondern auch um andere ernsthaft Sorgen zu machen und uns für Probleme überall auf der Welt zu interessieren.“, betonte der Friedenspreisträger, für den die Demokratie der Schlüssel zu einer besseren, gerechteren Zukunft ist.

Der Autoritarismus, so Sen weiter, verhänge direkte Strafen gegen Menschen; dazu gehörten die Verletzung der persönlichen Freiheit und der politischen Freiheitsrechte: „Darüber hinaus aber hängt der soziale Fortschritt in hohem Maße von menschlicher Kooperation ab, und eine Spaltung der Gesellschaft durch autokratische Asymmetrien und durch die Verfolgung missliebiger Gruppen kann die gemeinsame Arbeit für den Fortschritt um ein Vielfaches schwieriger machen.“

Der notwendige Widerstand gegen die Pandemie des Autoritarismus könne auf vielerlei Art erfolgen, „aber mehr Lesen, mehr Reden, mehr Streiten sollten ohne Zweifel Teil dessen sein, was Immanuel Kant so formuliert hat: `Der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muss jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter Menschen zustande bringen.´“

Sen erinnerte auch daran, dass der Widerstand gegen politische Tyrannei beseelt sei von Ideen und von Büchern. „Für Martin Luther King konnte das – genauso wie für die jungen Studentenführer heute – nur ein gewaltloser Prozess sein. Er ist auch der Weg zu dauerhaftem Frieden.“

Bücher helfen uns auch, miteinander zu streiten. Und nichts ist meiner Meinung nach so wichtig wie die Möglichkeit, über Dinge zu streiten, bei denen wir möglicherweise uneins sind.

Amartya Sen, Friedenspreisträger 2020

Auf die aktuellen Gefahren für die Demokratie durch autoritäre Tendenzen und Nationalismus weltweit war vorher auch Laudator Steinmeier eingegangen: „Wir sehen doch, wie die internationale Ordnung wankt“, so der Bundespräsident: „Weltweit sehen wir Anzeichen, dass der erreichte zivilisatorische Stand in Frage gestellt wird, dass völkerrechtliche Verpflichtungen missachtet werden. Selbst in unserer Nachbarschaft werden fundamentale demokratische Prinzipien angefochten.“ Aber, warnte der Bundespräsident: „Wo Demokratie erodiert, erodieren auch die Menschenrechte. Und wo Menschenrechte erodieren, erodiert auch die Demokratie. Die Demokratie stirbt nicht in der Dunkelheit. Wenn, dann stirbt sie im Tageslicht, vor unser aller Augen.“

Braucht ein Nobelpreisträger wie Amartya Sen überhaupt eine Auszeichnung wie den Friedenspreis? Auch das fragte der Bundespräsident in der Laudatio. Seine Antwort: „Ich halte es mit Carlo Schmid: Der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften mag die Expertenkrone der Ökonomie sein, der Friedenspreis ist die `Bürgerkrone der Menschlichkeit´."

Amartya Sen bedankte sich auf seine Weise: „Ich bin sehr glücklich, dass meine Gastgeber in der weiten Welt der Bücher eine kleine Ecke für mich gefunden haben.“ Bücher zu lesen – und über sie zu sprechen – könne unterhalten, amüsieren, aufregen und Interesse für alle möglichen Dinge wecken: „Bücher helfen uns auch, miteinander zu streiten. Und nichts ist meiner Meinung nach so wichtig wie die Möglichkeit, über Dinge zu streiten, bei denen wir möglicherweise uneins sind.“

Weitere Informationen zur Preisverleihung und zum Preisträger gibt es hier. Alle Reden dokumentiert das Börsenblatt in einer Beilage in der Ausgabe vom 22. Oktober. Die Aufzeichnung aus der Paulskirche lässt sich in der Mediathek der ARD abrufen.