Interview zur WEXFO-Konferenz in Lillehammer

"Die Kraft der differenzierten Argumentation"

13. Juni 2024
von Sabine Cronau

Als weltweite Allianz für Meinungsfreiheit: So versteht sich das World Expression Forum, das Ende Mai in Lillehammer getagt hat. Martina Stemann war für den Börsenverein dabei – und verantwortet das Thema auch als Ressortleitung im Verband. Was sie aus Norwegen mitnimmt.

Porträtbild Martina Stemann

Martina Stemann

Sie waren zum ersten Mal in Lillehammer dabei. Was hat Sie besonders bewegt?

Martina Stemann: Der WEXFO-Kongress in Lillehammer ist eine einzigartige Gelegenheit, um das breite Themenspektrum „Freedom of Expression“ auf internationaler Ebene aufzuspannen. In diesem Jahr kamen rund 1500 Teilnehmer aus über 50 Ländern zusammen, darunter viele junge Menschen, Vertreter:innen aus Verlagen, Medienhäusern und NGOs sowie Aktivist:innen, die sich mutig und unermüdlich für Freiheit im eigenen Land einsetzen.

Für mich war es ein bewegendes Erlebnis, wie kontrovers die unterschiedlichen Perspektiven auf politische Konfliktherde, etwa im Nahen Osten, diskutiert wurden – und zwar nicht nur zwischen den verschiedenen Kulturen, sondern auch zwischen den verschiedenen Generationen. Mich hat dabei die Kraft der differenzierten Argumentation, die grundlegende Aufgeschlossenheit für die Position des Gegenübers fasziniert.

Persönlich habe ich viel aus den Beiträgen des Charlie-Hebdo-Chefredakteurs Gérard Biard ziehen können. Seine unentwegte Bereitschaft, Sachverhalte distanziert und selbstkritisch zu betrachten, ist für mich herausragend.

Ein kompletter Programmteil in Lillehammer beschäftigte sich mit den Folgen von Desinformation im Wahlkampf oder dem Phänomen des gesteuerten Internet-Shutdowns

Martina Stemann

Haben die Wahlen, etwa in Südafrika, in den USA oder in Europa, eine Rolle auf den Podien gespielt? Und wenn ja: In welcher Hinsicht?

Martina Stemann: Wahlen haben eine zentrale Rolle beim Kongress gespielt. Ein kompletter Programmteil beschäftigte sich mit den Folgen von Desinformation im Wahlkampf oder dem Phänomen des gesteuerten Internet-Shutdowns, bei dem Regierungen kurzerhand den Zugang zum Netz sperren – übrigens häufig vor oder unmittelbar nach Wahlen. Der gemeinsame Blick auf die USA und die starke Polarisierung in dieser westlichen Demokratie war von großer Sorge geprägt.

Haben Sie bei der WEXFO-Konferenz etwas Neues über die Freiheit des Wortes gelernt?

Martina Stemann: Für mich ist deutlich geworden, wie sehr die Freiheit des Wortes durch einzelne Persönlichkeiten geprägt wird. In jeder kriselnden Demokratie, in jeder Diktatur sind es einzelne Personen, die ihre Stimme für die Freiheit erheben.

Ein Beispiel dafür ist Christo Grozev, der frühere CEO des Recherchenetzwerks Bellincat. Bei einem Workshop in Lillehammer teilte er auch diesmal wieder die Erfolge seiner open-source-basierten Recherchen, die einen wesentlichen Beitrag zum faktenbasierten Journalismus leisten - und nebenbei zur Aufklärung internationaler Korruptionsfälle und russischer Spionagenetzwerke.

Ein anderes Beispiel ist Viktoria Amelina, derer im Rahmen der diesjährigen Shortlist-Bekanntgabe des „Prix Voltaire“ gedacht wurde. Sie hatte im vergangenen Jahr in Lillehammer die Laudatio auf den ermordeten ukrainischen Schriftsteller und Illustrator Volodymyr Vakulenko gehalten. Als befreundete Journalistin hatte sie sein Kriegstagebuch gerettet und an der Aufklärung russischer Kriegsverbrechen gearbeitet. Kaum drei Wochen nach dieser Laudatio starb sie durch einen russischen Raketenangriff auf ein Restaurant.

Für mich ist deutlich geworden, wie sehr die Freiheit des Wortes durch einzelne Persönlichkeiten geprägt wird.

Martina Stemann

Das World Expression Forum soll ja auch der Vernetzung dienen. Wie wichtig ist es, dass sich die Verfechter:innen der Meinungsfreiheit zusammentun – gerade in diesen Zeiten?

Martina Stemann: Das Treffen in Lillehammer stärkt das Netzwerk derer, die sich weltweit für Debattenkultur, differenzierte, faktenbasierte Information und gegenseitiges Zuhören einsetzen. Das gemeinsame Anliegen bleibt das gleiche, aber die Anwendungsfälle, die politischen und gesellschaftlichen Krisenherde und die gefährdeten Demokratien verändern sich. Die Grenzen des Sagbaren müssen immer wieder aufs Neue ausgefochten und diskutiert werden.

Vor allem aber ist entscheidend, die junge Generation für die Bedeutung der freien Meinungsäußerung als Grundrecht und Grundlage jeder Demokratie zu sensibilisieren - und für die Gefahr, die es birgt, wenn wir die Freiheit des Wortes als selbstverständlich hinnehmen. Gerade in dieser Hinsicht leistet WEXFO einen ganz wichtigen Beitrag: Denn hier können sich junge Menschen aus unterschiedlichen Nationen begegnen und ihr Engagement in Sachen Meinungsfreiheit vernetzen.

Mehr über das World Expression Forum, kurz WEXFO

WEXFO-Logo
  • Das World Expression Forum, im August 2021 auf norwegische Initiative hin gegründet, soll die Meinungsfreiheit weltweit fördern – und zur globalen Plattform für die Freiheit des Wortes werden.
  • Organisiert ist das WEXFO als gemeinnützige GmbH, zu den Anteilseignern gehört auch der Börsenverein.
  • Herzstück ist die jährliche Konferenz, die 2024 vom 26. bis zum 29. Mai im norwegischen Lillehammer stattgefunden hat – und die auch ein spezielles junges Vernetzungsprogramm anbietet. Mehr dazu hier.