Leipziger Buchmesse: Politik-Diskussionen

Deutschland, Europa und die autokratische Gefahr

22. März 2024
Michael Roesler-Graichen

Hohe Umfragewerte der AfD vor den kommenden Wahlen, die Erosion demokratischen Bewusstseins, die Verteidigung der europäischen Idee, das Wiedererstarken des Antisemitismus - Themen, die zahlreiche Podien der Leipziger Buchmesse auch am gestrigen Freitag (22.3.) beherrschten. Auch der Börsenverein hatte zu einigen Veranstaltungen eingeladen.

Entfremdung zwischen Ost und West? Panel im Forum Offene Gesellschaft am Freitagnachmittag auf der Leipziger Messe; v.l.n.r.: Moderatorin Natascha Freundel (rbb), "Tagesthemen"-Moderatorin und Autorin Jessy Wellmer, Thomas de Maizière (CDU), früherer Innenminister der Bundesrepublik Deutschland

Die Diskussion um hohe Umfragewerte der AfD verstelle den Blick auf einen weltweiten Trend, meinte Thomas de Maizière, früherer Innenminister, bei einem Podium, zu dem die IG Meinungsfreiheit und der rbb ins Forum Offene Gesellschaft auf der Leipziger Buchmesse eingeladen hatten. Das sei nicht nur eine deutsche Diskussion. „Wir sehen einen Anstieg des Rechtspopulismus in Europa, in den USA und in aller Welt“, so der CDU-Politiker.

Für die deutsche Demokratie allerdings steht viel auf dem Spiel, wenn bei der Europawahl oder im Herbst die AfD Stimmenanteile erzielt, die den Prognosen entsprechen. In Sachsen liegt die rechtsextreme Partei in Umfragen bei 34 Prozent, und damit deutlich vor den anderen, demokratischen Parteien.

Wie konnte es dazu kommen, fragte Moderatorin Natascha Freundel, die beim rbb unter anderem den Debatten-Podcast „Der zweite Gedanke“ verantwortet? Die Journalistin und „Tagesthemen“-Moderatorin Jessy Wellmer, 1979 in Güstrow geboren, versucht in ihrem Buch „Die neue Entfremdung“ (Kiepenheuer & Witsch) eine Antwort darauf zu geben. Einen Grund sieht sie darin, dass die Ampel-Regierung und vor ihr schon die Große Koalition ihre Politik nicht gut vermittelt und die Demokratie nicht gut verteidigt habe. Einen Unterschied sieht Wellmer in der Wahrnehmung von Krisen. Parteien am rechten Rand zu wählen, sei zwar kein rein ostdeutsches Problem. Aber der Osten sei erstens in demographischer Hinsicht älter und dem Westen in der (antidemokratischen) Entwicklung voraus. „Seit 2015 rumort es im Osten, zunächst wegen der Flüchtlingskrise, dann wegen Corona.“ Der Ukrainekrieg schließlich habe alte Wunden aufgerissen und die Wut noch lauter werden lassen.

Thomas de Maizière, der heute in Dresden lebt, sieht die Ursachen für den erstarkenden Rechtspopulismus in der Ablehnung und Abwendung von Globalisierung, Moderne und Unübersichtlichkeit. Dass die Zustimmungswerte für die AfD im Osten doppelt so hoch seien, habe mit einer Abneigung gegen Vorgaben aus Berlin, mit Bevormundungsvorwürfen, mit der Müdigkeit in Bezug auf die Transformation, mit der Forderung, man müsse mehr Englisch lernen zu tun. Die Vorstellung von Veränderung und Reformen führe zu Widerstand. „Außerdem“, so de Maizière, „sind die Sachsen immer schon rebellisch gewesen, seit August dem Starken.“ (Kurfürst von Sachsen von 1697 bis 1733, mit zeitweiliger Unterbrechung; Anm. d. Red.)

Jessy Wellmer hat in Gesprächen mit der Elterngeneration herauszufinden versucht, wie es zur Entfremdung zwischen Ost und West gekommen sei. Sie beobachtet eine tiefe Verunsicherung und Unzufriedenheit, die durch die moralische Haltung des Westens im Ukrainekrieg verstärkt worden sei. Sie werde als Affront gegen die eigene, ostdeutsche Identität aufgefasst und führe zu einer Solidarisierung mit Russland. In dieser Gedankenwelt, das machte ein Beispiel deutlich, das Moderatorin Natascha Freundel einbrachte, sind Annalena Baerbock und Wolodymyr Selensky die aktuell gefährlichsten Politiker der Welt.

Von der Entfremdungsthese, bekannte de Maizière freimütig, halte er nicht viel. Man könne psychologische Begriffe nicht auf die Gesellschaft übertragen. Ein Problem der östlichen Befindlichkeit liegt ihm zufolge darin, dass der Westen immer als die Messlatte für die eigene Haltung diene, sowohl im Wunsch, genauso wie im Westen leben zu können, wie in der Enttäuschung darüber, dass dies versagt bleibe. Es sei Zeit, so de Maizière, diese Messlatte abzulegen, und selbstbewusst zum Leben als Ostdeutsche zu stehen. „Hört auf, so zu reden, als wäre der Osten ein fremder Stern.“ Das war, in Anspielung auf den anfangs erwähnten Podcast, der „zweite Gedanke“, der mangelndes Selbstbewusstsein, mangelnden Stolz auf die eigene Leistung als Ursache für das Gefühl der Verunsicherung und Inferiorität sieht. Ein Gedanke, der auch nicht frei ist von psychologischen Implikationen.

Thomas de Maizière (CDU)

Test für Europa

Ob die Demokratie robust und resilient genug ist, um die rechte Gefahr abzuwehren, wird sich schon im Juni erweisen, wenn das neue EU-Parlament gewählt wird. Eine Gesprächsrunde, zu der das Berliner Büro des Börsenvereins auf die ZDF-Bühne in der Glashalle der Messe eingeladen hatte, war sich parteiübergreifend einig darin, wie lebendig und existenziell wichtig der europäische Gedanke sei. Das Ergebnis der Runde mit der Autorin Alexandra von Poschinger, der stellvertretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Dorothee Bär, der Vorsitzenden der Grünen-Fraktion im EU-Parlament, Terry Reintke, sowie der neuen Vertreterin der Europäischen Kommission in Berlin, Barbara Gessler, lässt sich allerdings auf den Punkt bringen: Europa hat ein Kommunikationsproblem. Es fehle an geeigneter Vermittlung für europäische Themen, und es sei wichtig, in den Dialog mit den Bürgern der Mitgliedsstaaten zu treten, so die Runde. Dabei ist Europa längst gelebte Realität, etwa in der Grenzregion Deutschland, Österreich und Tschechien, über die Alexandra von Poschinger ihr Buch „Zusammen wachsen. Starke Stimmen für Europa“ geschrieben hat.

Diskussion mit Autorin Alexandra von Poschinger, der stellvertretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Dorothee Bär, der Vorsitzenden der Grünen-Fraktion im EU-Parlament, Terry Reintke, sowie der neuen Vertreterin der Europäischen Kommission in Berlin, Barbara Gessler (von links)

Barbara Gessler, die vor ihrer neuen Funktion elf Jahre lang das Kulturförderprogramm „Creative Europe“ geleitet hat, unterstrich, dass grenzüberschreitende Projekte Europa näher zusammenbringen. Terry Reintke, die parallel zum Podium via Smartphone eine Abstimmung im EU-Parlament verfolgte, betonte, wie wichtig es sei, auf europäischer Ebene zusammenzuarbeiten, um Herausforderungen wie Klimaschutz zu bewältigen. Dorothee Bär, die an der Fraktionsspitze für die Themen Familie, Senioren und Jugend sowie Kultur und Medien verantwortlich ist, leistet Überzeugungsarbeit vor Ort in ihrem Wahlkreis, besonders auch in Schulen. Sie möchte die 16-Jährigen im Freistaat, die erstmals von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen können, zum Urnengang motivieren. Gessler und Reintke hoben hervor, wie wichtig Vermittler und Multiplikatoren seien, um die europäischen Aktivitäten den Menschen nahezubringen und auf kritische Tendenzen einzugehen. Den Dialog mit den rechtsextremen Kräften, die lediglich auf die Zerstörung der europäischen Institutionen aus seien, lehnte alle Teilnehmer der Runde ab.

Dorothee Bär

Barbara Gessler

Der wiedererstarkte Antisemitismus

Der Antisemitismus war nie weg und ist wieder erstarkt, spätestens seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. So Niklas Frank, der Sohn des NS-Kriegsverbrechers Hans Frank im Gespräch mit seinem Verleger Uwe Optenhögel am Freitagmorgen im Forum Literatur und Audio in Halle 2 der Buchmesse. Sein jüngstes Buch „Zum Ausrotten wieder bereit? Wir deutschen Antisemiten – und was uns blüht“ (Verlag J.H.W. Dietz) hat er schon vor dem Hamas-Massaker fertiggestellt. Darin hat er Interviews mit Juden und Nichtjuden in Deutschland geführt und über die Bedrohungslage (und das Gefühl der Bedrohung) gesprochen: über den Judenhass und die autoritäre Versuchung, die er vor allem in Gestalt der AfD heraufziehen sieht. Als Jude oder Jüdin in Deutschland zu leben, sei auch fast 80 Jahre nach dem Holocaust mit Unsicherheit verbunden. Der renommierte Historiker Michael Wolffsohn, den Frank besuchte, verberge an der Haustür seinen vollen Namen hinter Initialen.

Schülerinnen und Schüler, die Frank ebenfalls über Judentum und Holocaust befragt hat, hätten zwar in der Regel wie „ausgebuffte Politiker“ geantwortet, aber auch Stereotypen bedient. Frage: „Was fällt dir beim Wort Jude ein?“ Antwort: „Geldgier.“ „Dass Juden in Deutschland nicht normal leben können, macht mich wütend“, so Frank. Dass der Antisemitismus eine derartige Renaissance erlebe, führt Frank darauf zurück, „dass wir das Leid der Opfer nie an uns herangelassen und die Wahrheit verschwiegen haben“. „Alle verschwiegenen Wahrheiten werden giftig", zitierte Frank den Philosophen Friedrich Nietzsche aus "Also sprach Zarathustra".

Was die demokratische Widerstandskraft der deutschen Gesellschaft angeht, ist Frank pessimistisch. "Es gibt vielleicht eine Millionen Demokraten in unserem Land, vor vier Jahren hätte ich noch zwei Millionen gesagt. Der Rest ist Verschiebemasse für die Diktatur."