Die Diskussion um hohe Umfragewerte der AfD verstelle den Blick auf einen weltweiten Trend, meinte Thomas de Maizière, früherer Innenminister, bei einem Podium, zu dem die IG Meinungsfreiheit und der rbb ins Forum Offene Gesellschaft auf der Leipziger Buchmesse eingeladen hatten. Das sei nicht nur eine deutsche Diskussion. „Wir sehen einen Anstieg des Rechtspopulismus in Europa, in den USA und in aller Welt“, so der CDU-Politiker.
Für die deutsche Demokratie allerdings steht viel auf dem Spiel, wenn bei der Europawahl oder im Herbst die AfD Stimmenanteile erzielt, die den Prognosen entsprechen. In Sachsen liegt die rechtsextreme Partei in Umfragen bei 34 Prozent, und damit deutlich vor den anderen, demokratischen Parteien.
Wie konnte es dazu kommen, fragte Moderatorin Natascha Freundel, die beim rbb unter anderem den Debatten-Podcast „Der zweite Gedanke“ verantwortet? Die Journalistin und „Tagesthemen“-Moderatorin Jessy Wellmer, 1979 in Güstrow geboren, versucht in ihrem Buch „Die neue Entfremdung“ (Kiepenheuer & Witsch) eine Antwort darauf zu geben. Einen Grund sieht sie darin, dass die Ampel-Regierung und vor ihr schon die Große Koalition ihre Politik nicht gut vermittelt und die Demokratie nicht gut verteidigt habe. Einen Unterschied sieht Wellmer in der Wahrnehmung von Krisen. Parteien am rechten Rand zu wählen, sei zwar kein rein ostdeutsches Problem. Aber der Osten sei erstens in demographischer Hinsicht älter und dem Westen in der (antidemokratischen) Entwicklung voraus. „Seit 2015 rumort es im Osten, zunächst wegen der Flüchtlingskrise, dann wegen Corona.“ Der Ukrainekrieg schließlich habe alte Wunden aufgerissen und die Wut noch lauter werden lassen.
Thomas de Maizière, der heute in Dresden lebt, sieht die Ursachen für den erstarkenden Rechtspopulismus in der Ablehnung und Abwendung von Globalisierung, Moderne und Unübersichtlichkeit. Dass die Zustimmungswerte für die AfD im Osten doppelt so hoch seien, habe mit einer Abneigung gegen Vorgaben aus Berlin, mit Bevormundungsvorwürfen, mit der Müdigkeit in Bezug auf die Transformation, mit der Forderung, man müsse mehr Englisch lernen zu tun. Die Vorstellung von Veränderung und Reformen führe zu Widerstand. „Außerdem“, so de Maizière, „sind die Sachsen immer schon rebellisch gewesen, seit August dem Starken.“ (Kurfürst von Sachsen von 1697 bis 1733, mit zeitweiliger Unterbrechung; Anm. d. Red.)
Jessy Wellmer hat in Gesprächen mit der Elterngeneration herauszufinden versucht, wie es zur Entfremdung zwischen Ost und West gekommen sei. Sie beobachtet eine tiefe Verunsicherung und Unzufriedenheit, die durch die moralische Haltung des Westens im Ukrainekrieg verstärkt worden sei. Sie werde als Affront gegen die eigene, ostdeutsche Identität aufgefasst und führe zu einer Solidarisierung mit Russland. In dieser Gedankenwelt, das machte ein Beispiel deutlich, das Moderatorin Natascha Freundel einbrachte, sind Annalena Baerbock und Wolodymyr Selensky die aktuell gefährlichsten Politiker der Welt.
Von der Entfremdungsthese, bekannte de Maizière freimütig, halte er nicht viel. Man könne psychologische Begriffe nicht auf die Gesellschaft übertragen. Ein Problem der östlichen Befindlichkeit liegt ihm zufolge darin, dass der Westen immer als die Messlatte für die eigene Haltung diene, sowohl im Wunsch, genauso wie im Westen leben zu können, wie in der Enttäuschung darüber, dass dies versagt bleibe. Es sei Zeit, so de Maizière, diese Messlatte abzulegen, und selbstbewusst zum Leben als Ostdeutsche zu stehen. „Hört auf, so zu reden, als wäre der Osten ein fremder Stern.“ Das war, in Anspielung auf den anfangs erwähnten Podcast, der „zweite Gedanke“, der mangelndes Selbstbewusstsein, mangelnden Stolz auf die eigene Leistung als Ursache für das Gefühl der Verunsicherung und Inferiorität sieht. Ein Gedanke, der auch nicht frei ist von psychologischen Implikationen.