Großes Kino
Erstmals Buchmesse-Fernsehen: Das BOOKFEST digital sendete auf der Buchmesse-Website am Samstag, 17. Oktober, ganztägig Autorengespräche und Diskussionen. Eine Fernsehkritik.
Erstmals Buchmesse-Fernsehen: Das BOOKFEST digital sendete auf der Buchmesse-Website am Samstag, 17. Oktober, ganztägig Autorengespräche und Diskussionen. Eine Fernsehkritik.
Vom Frühstück bis kurz vor Mitternacht gab es Programm – ein Ritt durch alle Themen, die die Welt bewegen, bewegen könnten oder bewegen sollten; Gespräche mit Literaturstars, Wissenschaftlern, Reisenden, Buchbranchenexperten zu internationalen Themen, manche umfassend und gesellschaftlich weltweit relevant wie der Klimawandel oder die Genderfrage, andere sehr speziell und branchenbezogen. Die Vielfalt beeindruckt, und wie üblich markiert man alles, was interessiert. Dank der Speicherfunktion ist der digitale Kalender ruckzuck übervoll. Ich stelle mir trotzdem vor, im Unterschied zur realen Messe bei vielen Veranstaltungen dabei zu sein. Auf der „echten“ Messe habe ich es ja meistens dann doch entweder nicht rechtzeitig zur xy-Bühne geschafft, und wenn, ließ ich mich auf einen Hocker fallen und konnte doch der Diskussion nicht folgen, weil mir der Kopf noch von den Gesprächen auf den Messefluren oder dem Geräuschpegel der Halle schwirrte.
2020, denke ich mir, sitze ich unter Ausschluss der störenden Öffentlichkeit morgens mit dem Marmeladebrot vor einem Talk mit »Ichgold«-Podcasterin Dana Schwandt („Du bist für mehr gemacht“), mittags rühre ich mit Fischkoch Uri Buri in der Pfanne, zum Kaffee werde ich gesellschaftskritisch „Wieviel Stammtisch darf es sein?” kommentieren.
Dann werde mich beim Einkauf beeilen, um rechtzeitig zurück zu sein, wenn Marc-Uwe Kling aus „Qualityland“ liest, leider nur drei Minuten lang. Dann vielleicht doch lieber eine ganze Stunde Margaret Atwood am Abend, und später den Fernweh-Slot mit lauter Weltreisenden … Das Ganze ist ein großes Kulturprogramm zur allerbesten Sendezeit. Das will und kann nur die Buchmesse leisten (oder der öffentlich-rechtliche Rundfunk mit der ARD-Bühne).
Zwei Studios senden parallel, in einem eingeblendeten Fenster liest man, was auf dem anderen Kanal gerade verpasst. Von den schön gestalteten Studios aus holen die jeweils nach einigen Stunden wechselnden Moderatoren diverse Einspieler ins Programm – inhaltlich und ästhetisch äußerst abwechslungsreich. Bei „Women in Battle Fokus Kanada / Norwegen“ bin ich hängengeblieben: Moderiert von der Journalistin Shelly Kupferberg präsentierten norwegische und kanadische Autorinnen ihre Literatur oder ihre Musik, gesprochen wurde Sami, Norwegisch, Englisch und Deutsch, gesendet aus dem heimischen Arbeitszimmer, dem Tonstudio oder einem Wald von Zimmerpflanzen. Das Format ist ebenso international wie von persönlicher Intimität geprägt.
Ich streife das Kinderprogramm, eine Aufzeichnung mit Jaromir Konecny zu Gast in der Rätselküche, gucke Ross Antony beim Backen eines „fluffigen“ Biskuits zu, kurz danach spricht Jan Weiler über das Elternsein mit großen Kindern. Auch Weiler benutzt das Wort „fluffig“, den Zusammenhang habe ich aber vergessen.
Der Zeitplan ist beim Hin- und Herzappen schnell vergessen, man lässt sich doch gern ablenken, wenn es gute Autorengespräche gibt mit so erfrischenden Botschaften wie „Das beste Mittel gegen eine Schreibblockade ist ein Hund – beim Spazieren denkt es weiter, aber weniger angestrengt“, sagt Zora del Bueno beispielsweise. Ich beschließe, Selfie-Videos von weniger als drei Minuten Länge als Werbeblock zu verstehen und moderierte Gespräche als Kulturprogramm zu bevorzugen.
Der Höhepunkt am Abend: Edward Snowden live (also richtig live, sogar mit Zuschauerfragen). Der Whistleblower hat eine Autobiografie geschrieben, um manches Missverständnis gerade zu rücken, und wie der Digital Native das heutige Internet einschätzt, ist hörenswert. Die Videoeinblendung aus Russland ist so verpixelt, dass man die Augen zukneifen muss, aber das ist ja nicht das Entscheidende.
Kurz darauf ein aufgezeichnetes Interview mit Margaret Atwood – in perfekt ausgeleuchteter HD-Bildqualität, in Englisch oder Französisch untertitelt, je nachdem, in welcher Sprache man gerade parliert. Und die Schriftstellerin hat eine Menge zu sagen, zum Umgang mit der Corona-Pandemie und dem Umgang mit Schriftstellern, „Wenn man Autoren vorschreiben würde, was sie zu schreiben haben, wäre das Totalitarismus“, betont Atwood die Freiheit der Literatur. Und schmunzelt: “Mir hat man immer nur gesagt, was ich nicht hätte schreiben sollen.“
Buchmesse-TV hat mir persönlich Spaß gemacht. Vielleicht nehme ich mir nächstes Jahr am Samstag von der physischen Messe frei und schaue Bookfest digital. Vielleicht.
Hat die Messe mit dem digitalen Angebot am Wochenende ihre Stammgäste erreicht? Schaust Du Buchmesse digital?, frage ich einen Freund. Er ist einer der Besucher, die sonst immer am Messesonntag mit dem Kleinbus zur Buchmesse an- und unter enormer Zuladung wieder abreisen. Heuer nicht: „Die Buchmesse als Familienevent geht dieses Jahr für uns verloren“, bedauert er. Nein, er schaut nicht zu, beim Streamen fehle eben dieses Buchmesse-Feeling, in einer Menge von an der Welt interessierten AutorInnen und an Büchern interessierten Lesern zu schwimmen. „Sich im Gedränge mit anderen Buchliebhabern zu befinden, ist einfach anders als das Gedränge in der Fußgängerzone“, beschreibt er die euphorische Stimmung im Gewühl der Messehallen. Doch für die, deren Wohnort weiter als eine Tagesreise von Frankfurt entfernt liegt, ist das digitale Angebot ein schönes, bequemes Fenster zur Literaturwelt.
Nebenbei lese ich, was eine Freundin aus ihrem Marathon durch die Open-Books-Veranstaltungen whatsappt: wie die Maskenpflicht die Stimmung drückt, wie Christian Berkels Lesung in der leeren Kirche hallte, dass von den fünf für den Schweizer Buchpreis nominierten AutorInnen leider nur zwei da waren. Und doch ist die echte Begegnung durch nichts zu ersetzen. Wladimir Kaminer dankte in Frankfurt seinem Publikum, dass es zu einer Kulturveranstaltung gekommen sei: „Kultur ist die beste Medizin für den psychischen Schaden, den man gerade kriegt …“