Festspiel in zwei Akten
20 Jahre Buchhandlung SeitenBlick in Leipzig-Lindenau: Am Wochenende feierten Ansgar Weber und Jacqueline Simon mit Stammkunden, Partnern und Unterstützern.
20 Jahre Buchhandlung SeitenBlick in Leipzig-Lindenau: Am Wochenende feierten Ansgar Weber und Jacqueline Simon mit Stammkunden, Partnern und Unterstützern.
Dass in ihrem Eckladen am Lindenauer Markt lange vor den Büchern die Carola-Apotheke residierte, bekamen der gebürtige Franke Ansgar Weber und seine Frau Jacqueline Simon ausgedehnt zu spüren; noch im achten Jahr sollen treue Kunden vereinzelt nach Pillen und Pülverchen verlangt haben. Als das Paar 2004 ausgerechnet im abgerockten Leipziger Westen eine Buchhandlung eröffnen wollte, sahen nicht nur Ärzte und Apothekerinnen jede Menge potentielle Risiken und Nebenwirkungen. Doch in den vergangenen 20 Jahren hat sich der Problem-Kiez zum Trendquartier gewandelt – Kreative, Studenten und junge Familien haben dem einst abgehängten Stadtteil neues Leben eingehaucht.
Entsprechend groß auch die Zahl der Stammkunden (manche sollen dafür sogar ihre privaten Weinkeller geplündert haben!), Partner und Unterstützer, die sich am Wochenende zu einem „Festspiel in 2 Akten“ am Lindenauer Markt einfanden: Unter den Gästen des von fränkischen Bieren punktierten „Kleinen Sektakts“ am Samstagvormittag wurden etwa Winnie Karnofka, Intendantin des benachbarten Theaters der Jungen Welt, Kerstin Andruschow von der Georg-Maurer-Bibliothek Plagwitz, Kreuzer-Verleger Egbert Pietsch, die „Lieblingsverlagsvertreter“ Christian Geschke (Buchkoop Konterbande), Susan Filges und Jürgen Fiedler, die Autoren Elmar Schenkel und Anna Kaleri oder Marc Reichwein von der „Literarischen Welt“ gesichtet. Am Abend trat dann Michael Schweßiger mit seinem ebenfalls 20 Jahre alten, selbstverständlich vergriffenen Lindenau-Kultbuch In Darkest Leipzig auf.
Für den Laudator, den Autor, Literaturvermittler und Moderator Thomas Böhm, der als Kind einer Bergarbeiterfamilie im Ruhrpott nie über echte „Ostverwandtschaft“ verfügt hat, ist die spontane Leipzig-Visite immer noch ein „lebensgeschichtliches Wunder“. Böhm hatte sich besonders über die Einladung gefreut, weil er damit eine „Geste der Wertschätzung“ retournieren konnte, die er 2019 vom SeitenBlick erhalten hatte: Damals war Norwegen Gastland der Frankfurter Buchmesse, in Leipzig wurde vorgeglüht – und dank Ansgar Weber und Jacqueline Simon wurde der Abend mit Johan Harstad („Max, Mischa und die Tet-Offensive“) zu einer Sternstunde. Der sympathische Wahlberliner war mit einer Klemm-Mappe voller handschriftlich exzerpierter Jubelreden aufs Bücherschmökern (vermutlich aus seinem Recherchekasten zur „Wunderkammer des Lesens“ gegriffen)nach Leipzig gereist, die von John Ruskin und Toni Morrison bis zu Rilkes „Leser“ reichten: „Wer kennt ihn, diesen, welcher sein Gesicht / wegsenkte aus dem Sein zu einem zweiten, / das nur das schnelle Wenden voller Seiten / manchmal gewaltsam unterbricht.“
Höchst vergnüglich eine von Weber/Simon für Ghettoblaster und iPad eingerichtete SeitenBlick Revue, die Highlights aus 20 Jahren Buchhandlungsgeschichte als Hörspiel lebendig werden ließ, inklusive Jingle: Sie reichte von O-Tönen der eingangs beschriebenen Stammleser der Apotheken-Rundschau bis zu einer Rekonstruktion jenes berühmten Gesprächs, das den Seiteneinsteigern im Sortiment weiland ihren Laden bescherte – Christina Weiß, die mit Ausdauer und telefonischer Standfestigkeit gesegnete Chefin des Lindenauer Stadtteilvereins, in einer Paraderolle.
Was bleibt? Der Lindenauer Büchertisch, eine weitere SeitenBlick-Spezialität, greift inzwischen selbstbewusst über die Grenzen des Stadtteils aus, womöglich bis Markleeberg. Auf der Verewigungsschreibmaschine – einer für den festlichen Anlass zum Ready Made umgewidmeten ERIKA von Seidel & Naumann in Dresden – konnten sich die Gäste in eine ganz und gar analoge Hall of Fame tippen. So wird auch in den nächsten 20 Jahren nichts abstürzen – Papier ist geduldig.