E:Publish, zweiter Kongresstag

"Vorsicht Content!"

3. März 2015
von Nils Kahlefendt
Autoren, Verlage und Buchhandel sehen sich selbstbewussten Kunden gegenüber. Wer in der digitalen Zukunft nicht abgehängt werden will, muss sich quasi neu erfinden. Eindrücke vom zweiten E:Publish-Kongresstag. 

Werden Verlage nicht mehr gebraucht, weil verlegen, na ja: irgendwie Allgemeingut geworden ist? König Kunde tritt Autoren, Verlagen und Buchhandel selbstbewusst wie nie entgegen – wie kann er dennoch emotional bewegt und möglichst lange gebunden werden? Folgt man Stephan Selle (Zweitwerk), droht der mündige Konsument schon mal vor der Komplexität der ihm abverlangten Selektionen zu kapitulieren. Für Selle, der mit seiner Keynote über die „Tugend der Orientierungslosigkeit“ den zweiten Kongresstag eröffnete, ist die digitale Wende der große Gleichmacher: Physische Formatbeschränkungen wie die 50-Minuten-Folge von „House of Cards“ oder eine Buchseite sind – digital gesehen – nur noch Fiktion. Ein Format kann auf allen möglichen Abspielgeräten landen. „Schlaue digitale Endgeräte werden immer schlauer. Und das ziemlich schnell“, ist Selle überzeugt. Der Mann, der sich selbst der Generation der „multiplen Formatwechsler“ zurechnet, glaubt immerhin daran, dass die „generelle Media-Flatrate“ kommt.

 

Herausforderung Self-Publishing

Für den kurzfristig krankgemeldeten Keynote-Speaker Sascha Lobo sprangen Sönke Schulz (Tredition, Hamburg) und Okke Schlüter (HDM Stuttgart) ein. Besonders Schulz musste dem Mann mit dem roten Iro dankbar sein, bescherte ihm dessen Absenz doch eine extra Werbeschleife im Hauptprogramm. Sein Ziel: Der Abbau von Berührungsängsten zwischen Self-Publishern und klassischen Verlagen: „Self-Publishing ist längst nicht mehr die Schmuddelecke für Autoren, die es nicht zu einem ‚richtigen’ Verlag gebracht haben.“ Im Gegenteil: „75 Prozent suchen gar keinen Verlag mehr sondern wollen so schnell wie möglich loslegen.“  Ein Phänomen, von dem Tredition, der Indie unter den SP-Dienstleistern (50 White-Label-Partner, 38.000 Print-Titel und 3000 e-Books seit 2006) offenbar profitiert. Es hat die Wertschöpfung in der Branche bereits jetzt stark verändert. Was passiert, wenn man es ignoriert, zeigt der Buchhandel: Im Self-Publishing-Segment habe der seine Rolle als „Empfehlungs-Instanz“ längst an Facebook & Co. abgegeben. Dem Buchkäufer, so die bedenkliche These, sei die Qualitätsmarke eines Verlags schlussendlich Schnuppe.

 

Der Brennstoff unserer Gesellschaft

Wieso, fragte sich Okke Schlüter, zahlen wir eigentlich drei Euro für einen schlechten Kaffee bei Starbucks, winden uns aber wegen einer App für wenige Cent? „Wenn Content weiter entwertet wird“, fürchtet Schlüter, „wird bald niemand außer profilneurotischen Schreihälsen welchen produzieren“. Also: Einfach mal einen Stein ins Wasser werfen. Oder mehrere: Unter dem Motto „Weil wir es euch wert sind – Content ist der Brennstoff unserer Gesellschaft“ präsentierte der Professor aus Stuttgart Bausteine zu einer Kampagne á la „Vorsicht Buch!“. Sie soll dafür sensibilisieren, dass wir ohne ein funktionierendes Publikationswesen nicht wären, was wir sind. Zentrales Element: Ein „Content inside“-Siegel, das nach Vorbild von Intel oder dem Bio-Bauern nebenan werthaltigen Inhalt signalisiert. Als Weckruf sehr sympathisch, auch mit einigen hübschen Ideen (u. a. soll geprüfter User-generated Content vergütet werden wie eingespeister Strom). Aber wer definiert letztlich, was Qualität ist? Erreicht hat Schlüter mit seinem ad-hoc-Plädoyer für Wert-Wahrnehmung immerhin das, was er wollte: Es wurde lebhaft diskutiert.

 

 

Weltuntergänge und die „Aber-Polizei“

Taugen moderne TV-Serien als Impulsgeber für die Buchbranche? Was dürfen digitale Bücher kosten? Wie sollen Verlage in Zeiten von „Big Data“ ihre Ressourcen nutzen? Welche Formen von Autorschaft benötigt das e-Publishing wirklich? Das simultane Angebot an Workshops und Table Sessions hätte auch am Freitag die Gabe der Multi-Lokalität erfordert. Wie herstellender und verbreitender Buchhandel kooperieren können, um digitale Produkte auch in der Offline-Welt sicht- und monetarisierbar zu machen, ließ sich anhand von Ideen aus dem Wettbewerb „Arena Digital“ (https://arenaforbooks.jovoto.com) durchspielen.

In einem „Weltuntergangs-Szenario“ schickte Dorothee Werner (Börsenverein) vier Teams aus einer apokalyptischen Zukunft (Preisbindung gefallen, Mehrwertsteuersatz 50 Prozent, der Markt wird von einem finsteren Oligopol von Rechteverwertern beherrscht, holografische Projektionen haben Smartphones abgelöst) zurück in die noch halbwegs heile Vergangenheit vor dem Sündenfall: Zweite Chance, Reset. Wo ließe sich neu ansetzen? Erschwert wurde die Aufgabe der Expeditionsteilnehmer durch zahllose eingebaute Zusatz-Komplikationen: Piper-Cheflektor Thomas Tebbe etwa fungierte, tolles Job-Profil, als „Aber-Polizist“ – das A-Wort war in diesem Survival-Camp strikt verboten. Wer es heil überstand, wird vermutlich auch eine Zukunft überleben, in der Content kostenlos ist.

Schnickschnackschnuck und Applausometer: Das protoTYPE-Finale

Mit den Projektpräsentationen auf der E:Publish ging auch der protoType-Jahrgang 2014 zu Ende. Vier Projektgruppen hatten sich über sechs Monate ganz praktisch mit Geschäftsfeldentwicklung, Produktmanagement und Innovationsprozessen auseinandergesetzt. Wegen des Bahnstreiks konnten in Berlin leider nur drei Prototypen in den Pitch gehen: Das Jobportal Matchup, Bookalive, ein Service für enhanced Books, und Bookfairy, eine Art „digitaler Vertreter“ als Link zwischen kleineren Sortimenten und Indie-Verlagen (http://bookfairy.innovation-prototype.de). Als Werbeassistentin bei Random House kümmert sich die HTWK-Absolventin Anja Fuhrmann heute um die Organisation von fünf Verlagsvorschauen – der Vorschauberg in einer Buchhandlung türmt sich allerdings rund acht Meter, so hoch wie ein zweistöckiges Einfamilienhaus. Sichtung und Vertretergespräche, so hat Fuhrmann hochgerechnet, kosten Buchhändler aufs Jahr zwei volle Monate; Zeit, in der sich der Sortimenter nicht seinen Kunden widmen kann. Die Abstimmung (elektronisch und per Applausometer) sah Bookfairy vorn. Anja Fuhrmann kann sich über ein Jahresabo der „Zeitschrift für Organisationsentwicklung“ freuen – Pflichtlektüre für eine Change Managerin. Gewonnen haben letztlich alle, die bei protoType dabei waren – bleibt zu hoffen, dass die Branche ihre Ideen aufgreift und weitertreibt. Nach protoTYPE ist vor protoTYPE: Bewerbungsstart für den Jahrgang 2015 ist im Januar. 

 

Wer sich ändert, bleibt dabei

„Moving the Customer“ war das Motto zweier randvoller Kongresstage. Nach dem Finale ging es für die zum Teil weit gereisten Teilnehmer darum, sich selbst trotz Bahnstreik irgendwie in die Basislager zurückzubewegen. Mitfahrgelegenheiten wurden reichlich offeriert; vielleicht sind 700 gemeinsame Autobahn-Kilometer ja der ideale Nährboden für eine Zufalls-Reisegemeinschaft, um neue digitale Projekte auszubaldowern? Möglich, dass Detlef Bluhm etwas voreilig war, wenn er versprach: „Zur 10. E-Publish können Sie den Flughafen BER benutzen.“ Schaumermal. Der nächste Kongress steigt am 5./6. November 2015, wieder in der Hauptstadt. Holger Volland, der ihn heuer zusammen mit Katja Spichal moderierte, twitterte nach zwei Tagen #epub14 nachdenklich: „Sind Verlage in Zukunft noch Verlage, wenn Publishing immer mehr zur Basisfähigkeit wird?“ Wer den Mut und die Kraft hat, sich mit technischen Innovationen und seinen Kunden auseinanderzusetzen, wird auch morgen noch gebraucht.