Die Sonntagsfrage

Braucht der Buchhandel Nachhilfe beim Thema queere Literatur?

5. Februar 2023
Redaktion Börsenblatt

Tobias Schiller und Marlon Brand betreiben den "Queeren Kanon", der gelungene queere Literatur vorstellt und versucht, Muster in der queeren Literatur zu identifizieren und zu kontextualisieren. Was hat sich seit Projektstart getan? Wie ist die Resonanz? Und wie kann der Buchhandel von der Arbeit der beiden profitieren? Das beantworten die beiden in der Sonntagsfrage. 

Tobias Schiller (re.) und Marlon Brand vom "Queeren Literaturkanon"

Tobias Schiller (re.) und Marlon Brand vom "Queeren Literaturkanon"

Was macht queere Literatur inhaltlich wie formal aus? Kann es einen queeren Kanon geben, wenn sich das Queere in seiner gewollten Uneindeutigkeit Zuordnungen entzieht? Damit beschäftigen wir uns privat und auf Instagram schon lange. Daraus ist der Wunsch entstanden, mit dem Newsletter-Magazin ‚Queerer Kanon?‘ gemeinsam auf Spurensuche zu gehen.

Wir möchten damit Neugier an queerer Literatur wecken und sehen den Kanon als eine Community, die vom Austausch lebt und an der jede*r teilhaben können soll.

Begonnen hat alles im September 2021 mit einem Instagram-Live, in dem wir uns anhand der Neuauflage von Hervé Guiberts Klassiker „Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat“ mit HIV-/AIDS-Literatur beschäftigt haben. Es folgten viele Anfragen, ob wir öfter über queere Literatur sprechen könnten. Daran anschließend gründeten wir im Februar 2022 den monatliche Newsletter, da das Format mehr Raum gibt, sich intensiv mit Literatur auseinanderzusetzen. Der Newsletter ist kostenfrei und hat mehr als 500 Abonnent*innen. Wir möchten damit Neugier an queerer Literatur wecken und sehen den Kanon als eine Community, die vom Austausch lebt und an der jede*r teilhaben können soll.

Vom Buchhandel werden wir positiv aufgenommen. Oft kommen Rückfragen zu Titeln und Themen und wir freuen uns, wenn dadurch queere Literatur mehr Sichtbarkeit findet.

Mit ‚Queerer Kanon?‘ machen wir uns auf die Suche nach Kontinuitäten, Mustern und Sujets, die queere Literatur stilistisch wie formal prägen. Wir widmen uns Klassikern und Vergessenem sowie Neuerscheinungen. Denn queere Literatur schafft Identifikationspotenzial(e). Diese Rückmeldung geben uns viele Leser*innen. Vom Buchhandel werden wir positiv aufgenommen. Oft kommen Rückfragen zu Titeln und Themen und wir freuen uns, wenn dadurch queere Literatur mehr Sichtbarkeit findet.

Im Literaturbetrieb scheint es an einigen Stellen an Interesse bzw. Kenntnis queerer Literatur zu mangeln. Die Kritik ordnet etwa queere Texte aus Unkenntnis oft nicht in bestehende Traditionen ein. Dabei würde es ohne queere Menschen Kultur, wie wir sie heute kennen, nicht geben.

Natürlich ließe sich argumentieren, dass ‚Queerer Kanon?‘ nur ein Nischenpublikum anspricht. So einfach ist es mit der Repräsentation jedoch nicht. Queere Literatur setzt sich immer mit dem Status quo auseinander – das geht jede*n etwas an. Im Literaturbetrieb scheint es an einigen Stellen an Interesse bzw. Kenntnis queerer Literatur zu mangeln. Die Kritik ordnet etwa queere Texte aus Unkenntnis oft nicht in bestehende Traditionen ein. Dabei würde es ohne queere Menschen Kultur, wie wir sie heute kennen, nicht geben. Es ist der Rand, der die Mitte nährt. Queere Literatur hat es schon immer gegeben, von Sappho bis de l‘Horizon.

Wir wünschen uns mehr Mut und Neugierde im Umgang damit, aber auch weniger Exotisierung. Vor allem aber glauben wir daran, dass Leser*innen mehr zugetraut werden darf. Das hat u.a. der Erfolg des Buchpreisgewinners ‚Blutbuch‘ bewiesen. Queere Literatur ist kein Trendthema. Sie hat Tradition(en) und eine komplexe Geschichte.