True-Crime-Novitäten

Das Grauen wartet nebenan

26. Januar 2017
Redaktion Börsenblatt
Rechtsmediziner Michael Tsokos erreicht mit seinen True-Crime-Titeln eine Millionenauflage – und auch sonst wird das Segment in erster Linie von Profis bestimmt: neue Bücher mit direktem Zugang zu den Abgründen der Seele.

Die deutsche Fernsehsendung "Aktenzeichen XY" berichtet bereits seit 1967 über ungelöste Verbrechen und fesselt die Zuschauer mit spannenden, grausamen und spektakulären Fällen. Und spätestens seit der Streamingdienst Netflix 2015 mit der Dokumentarserie "Making a murderer" einen Riesenerfolg produzierte, hat die Faszination am wahren Verbrechen nahezu jeden gepackt.

In der Buchbranche ist das Thema ebenfalls nicht neu – dafür stehen der Kriminalbiologe Mark Benecke, der Strafverteidiger Ferdinand von Schirach und nicht zuletzt der Rechtsmediziner Michael Tsokos: Er war 2009 bereits mit Veit Etzold "Dem Tod auf der Spur" (Ullstein, 272 S., 9,99 Euro). Nun erscheint das Buch im März bei Ullstein als Neuauflage, denn Tsokos schafft es damit ins Fernsehen: Noch in diesem Jahr will Sat.1 aus­gewählte Fälle – insgesamt stellt Tsokos zwölf vor – aus dem Sachbuch nacherzählen.

In den vergangenen Jahren hat sich der bekannte Rechtsmediziner, seit 2007 ist Tsokos Professor an der Charité in Berlin, auch als Belletristikautor einen Namen gemacht – längst sprengte seine Gesamtauflage die Millionengrenze (Sachbuch, Belletristik). Allerdings holt er sich für alles Fiktionale Unterstützung: Mit Sebastian Fitzek schrieb er 2013 den Thriller "Abgeschnitten", mit Andreas Gößling eine True-Crime-Trilogie, für die 2017 das Finale ansteht – "Zerbrochen" (Knaur, März, 432 S., 14,99 Euro).

In den Mittelpunkt rücken Tsokos und Gößling noch einmal den Rechtsmediziner Fred Abel, der diesmal eine riesige persönliche Herausforderung vor sich hat – seine Kinder werden entführt ... Um den Spitzentitel zum Verkaufshit zu machen, kurbelt Droemer Knaur die Marketingmaschinerie an. Die umfasst zum Beispiel eine große Anzeigenkampagne, Presse­begleitung zur Lesetour sowie zahlreiche Talkshow-, Fernseh- und Hörfunkauftritte.

Dass wahre Verbrechen einen Reiz auslösen, verdeutlicht auch ein Blick auf das Programm des Penguin Verlags, der im Herbst vorigen Jahres unter dem Dach der Verlagsgruppe RandomHouse das erste Programm in deutscher Sprache vorlegte. Im Juni erscheint hier unter True-Crime-Flagge das Sachbuch "Die Schuldigen" von Hanna und Nora Ziegert (240 S., 13 Euro) – in dem die Verbrecher ausschließlich weiblich sind. Auch der Titel selbst stammt aus der Feder von Frauen: Hanna Ziegert ist Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie sowie Psychoanalytikerin, seit 30 Jahren ist sie als forensische Gutachterin tätig; Tochter Nora Ziegert ist angehende Notarin und seit frühester Kindheit mit der Arbeit ihrer Mutter vertraut. "Die Schuldigen" basiert auf Fällen, mit denen Hanna Ziegert im Laufe ihrer Karriere konfrontiert wurde.

Dass Frauen anders töten, darauf konzentriert sich auch Stephan Harbort. Der Kriminalhauptkommissar und Experte für Serienmorde brachte bereits drei Titel auf den Markt (Gesamtauflage: mehr als 100.000 Exemplare) und widmet sich in Nummer 4 den Verbrecherinnen: Er hat sich intensiv mit den Geschichten von Frauen auseinandergesetzt, die in Serie morden, und eine Typologie der Täterinnen erstellt. Während Männer ihre Opfer eher erschlagen, erdrosseln oder erschießen, wie Harbort zeigt, setzen Frauen vorzugsweise auf Ersticken, Gift und Medikamente. Harbort kennt ihre Innensicht, beschreibt sie in dem 240 Seiten starken Sachbuch über "Killerfrauen" (Knaur, März, 9,99 Euro). So viel sei verraten: Am häufigsten töten Serienmörderinnen ihre eigenen Kinder – oder ihnen beruflich oder privat anvertraute Patienten. Harbort analysiert Persönlichkeitsprofile und -störungen solcher Frauen, ihre Motivation und Sozialisation anhand jeweils eines beispielhaften Falls.

Auch Gmeiner bewies im vergangenen Jahr Gespür für True Crime: Zum Jubiläum hob der Verlag 2016 eine neue Reihe ins Programm – mit dem Namen Wahre Verbrechen. Gmeiner widmet sich Fällen, die Deutschland und zum Teil die halbe Welt in Atem gehalten haben.

Im März erscheint in der Reihe unter anderem der biografische Kriminalroman "Der Werwolf von Hannover. Fritz Haarmann" (Gmeiner, 313 S., 12,99 Euro): Leser begeben sich hier gemeinsam mit Autorin Franziska Steinhauer auf eine Reise in die deutsche Vergangenheit der 1920er Jahre, wo sie mit der Mordserie Fritz Haarmanns haarklein konfrontiert werden. Mittlerweile umfasst die Reihe fünf biografische Romane. Und es gibt in der deutschen Geschichte ja noch mehr Stoff für weitere Bände, für eine never ending Story.

Nicht weniger beklemmend sind die Titel aus dem Ausland: Der Europa Verlag bringt im Februar "Sein blutiges Projekt. Der Fall ­Roderick ­Macrae" (Februar, 344 S., 17,90 Euro) in den Handel, einen historischen Psychothriller von Graeme Macrae Burnet, der sich hier einen vermeintlichen Fall von 1869 vornimmt. Mit dem Buch, seinem zweiten Roman, beweist sich der schottische Autor als Meister seines Fachs: Burnet schreibt über den jungen Roderick Macrae und dessen Gerichtsprozess wegen dreifachen Mordes, flicht dabei Rodericks Aufzeichnungen mit Gerichtsunterlagen, Gutachten und der Prozessberichterstattung so kunstvoll zusammen, dass er mit dem Leser spielt. Was sich auf den ersten Blick als reiner True-Crime-Titel präsentiert, entpuppt sich als spannendes literarisches Puzzle – dem Autor gelang damit der Sprung auf die Shortlist für den Man Booker Prize 2016.