Neuerscheinung zu Literaturkanon

Lesen Kritiker immer mit Bleistift?

5. September 2018
Redaktion Börsenblatt
Wie wichtig sind Zeitungsrezensionen überhaupt? Kann man Literatur querlesen? SPIEGEL-Literaturkritiker Volker Weidermann und sein Vorgänger Volker Hage reden Klartext über den Job, den Literaturkritiker meistens in der Stille ausüben. Das Gespräch wurde von SPIEGEL-Redakteur Martin Doerry für das Buch „Wen liebte Goethes Faust? Der große SPIEGEL-Wissenstest Literatur“ (erscheint am 7. September) geführt. Dort ist das Gespräch in voller Länge abgedruckt, boersenblatt.net bringt vorab einen Auszug:

Volker Hage, Volker Weidermann, wann und wie sind Sie beide zu Lesern geworden?

Hage: In meinem Elternhaus gab es kaum Bücher mit Literatur, eher ging es um Verkaufspsychologie und Ähnliches. Natürlich habe ich Kinderbücher gelesen, mein Lieblingsbuch war »Die rote Zora«.

Weidermann: Auch meine Eltern haben nur die üblichen Büchergilde-Bücher gehabt, das war also auch kein klassisch-bildungsbürgerlicher Haushalt. Für mich ging es mit Asterix los und dem »Kleinen Nick«. Das habe ich Hunderte Male gelesen, die Asterix-Hefte konnte ich auswendig.

Hage: Die Comics habe ich vergessen, ich habe mit Mickey Mouse angefangen!

 

Wer sich als junger Mensch für Literatur begeistert, will vielleicht gar kein Kritiker werden, sondern Schriftsteller. Warum sind Sie beide diesen Weg nicht gegangen?

Hage: Also, das Vergnügen, zu erzählen, schließt sich ja mit der Kritik nicht völlig aus. aber ich verrate hier mal, dass ich als junger Mann mit 21 Jahren meinen ersten Roman geschrieben habe, der dann zum Glück nicht veröffentlicht worden ist. Und als ich ein paar Jahre später zur »F.A.Z« ging, habe ich das Projekt Schriftstellerei auf die Zeit nach meiner Kritikerarbeit vertagt.

Weidermann: Für mich kam das nie infrage. Ich habe nicht einmal heimlich geschrieben. Ich habe die allergrößte Bewunderung fürs Schreiben und für die Schriftstellerei, aber mir fehlt allein schon die Fantasie, um so etwas zu machen.

Wenn man sich also gegen die Literatur und für die Kritik entscheidet, hat man wahrscheinlich Vorbilder, denen man nacheifert. Wer war das bei Ihnen beiden? Marcel Reich-Ranicki?

Hage: Ja, unbedingt, aber natürlich gab es auch noch andere Vorbilder.

Weidermann: Ebenfalls Reich-Ranicki, nicht so sehr wegen seiner aktuellen Zeitungskritiken, sondern wegen seiner Bücher, seinem Band »Nachprüfungen«, zum Beispiel, oder »Über Ruhestörer. Juden in der deutschen Literatur«. Ich sage immer, dass ich eigentlich bei ihm studiert habe, mithilfe dieser Bücher. Aber sicherlich gab es noch andere: Benedikt Erenz von der »Zeit«, beispielsweise. Oder früher Willi Winkler, auch in der »Zeit«.

Reich-Ranicki hat noch großen Wert auf die klassische Form der Rezension gelegt. Die stirbt heute aus, oder?

Weidermann: Es wird weniger, ja. Manchmal gehen sogar mir diese Mischformen zu weit. Ehrlich gesagt nervt es mich auch als Leser: Ich möchte nicht jeden Autor treffen, nein. Viele von den jüngeren Autoren sind auch nicht so interessant, zumal, wenn man noch keine große Biografie vorzuweisen hat. Man muss sich als Kritiker schon genau fragen, warum man jemanden treffen will.

Hage: Verliert die Form der Rezension nicht auch deswegen langsam ihre Bedeutung, weil einfach immer weniger Zeitungen über Literatur berichten?

Weidermann: Ich glaube, es ist unstrittig, dass Literatur an sich in der Gesellschaft an Bedeutung verliert. Aber es gibt leider auch nur noch sehr wenige Rezensenten heute, die so klug und unterhaltsam schreiben, wie es unser großes Vorbild Reich-Ranicki gemacht hat.

Geht die Zahl der Rezensionen auch deswegen zurück, weil die Leser kein Interesse mehr an dieser Form haben?

Hage: Jedenfalls ein geringeres als an der Form des literarischen Porträts, das ist bestimmt so.

Weidermann: Die »F.A.Z« hat, wie der SPIEGEL übrigens auch, eine Zeit lang mit dem Readerscan, also einer elektronischen Messung, das Interesse der Leser an ihren Texten erforscht. Und Rezensionen kommen dabei immer ganz schlecht weg. Das Ergebnis lag praktisch bei null. Es ist ja auch viel schwieriger, einen lebendigen Text über etwas nur Gedrucktes zu schreiben. Die Leser wollen Storys über Menschen.

Hage: Das alles führt dazu, dass viele Zeitungen keine Verrisse mehr haben wollen, nur Lobhudeleien.

Weidermann: Ja, das ist ein Desaster, viele Zeitungen wollen nur noch Empfehlungen. Das schadet der Dynamik jedes Textes enorm.

Hage: Ein Lob ist allerdings auch nichts wert, wenn man nichts mehr kritisiert.

Es hat sicherlich keinen Sinn, die Bücher unbekannter Autoren zu verreißen. Andererseits gibt es auch nur noch wenige Autoren, die schon so arriviert sind, dass sie diesen Schutzanspruch nicht mehr genießen sollten.

Hage: Ja, davon gab es früher sicher mehr. Da gab es den neuen Böll, den neuen Frisch, den neuen Grass, Lenz oder Walser, den man selbstverständlich kritisieren konnte und musste. Da wollte auch jeder wissen, ob das neue Buch etwas taugt.

Für welche Autoren gilt das denn noch heute?

Weidermann: Für die Leser der älteren Generation der neue Botho Strauß, der neue Peter Handke vielleicht.

Und das neue Buch von Juli Zeh für die jüngere Generation?

Weidermann: Ja, zum Beispiel, oder Daniel Kehlmann, von Schirach. Als Kritiker leidet man inzwischen daran, dass es nur noch eine kleine Zahl von Autoren gibt, die in diese Kategorie gehören, die so prominent sind, dass ein Urteil über ihre neuen Bücher von den Lesern erwartet wird.

Gehen die Kritiker heute netter miteinander um?

Hage: Mein Eindruck ist das schon. Früher gab es fast zwangsläufig die großen Konflikte bei prominenten Neuerscheinungen: Der Kritiker der »SZ« fiel über den der »F.A.Z« her, wenn ihm seine Meinung nicht passte, der Kritiker der »Zeit« über den des SPIEGEL – und umgekehrt. Das hat nachgelassen.

Weidermann: Dabei waren das fast alle Schüler von Reich-Ranicki, also desselben Lehrers. Ich weiß es auch nicht, warum es heute diese Rituale, diese Auseinandersetzungen über Literatur, nur noch so selten gibt. Diejenigen, die heute in den großen Blättern über Literatur schreiben, haben tatsächlich alle fast gleichzeitig angefangen. Wir kennen uns alle, wir haben alle die gleiche Bewunderung für die Literatur, auch wenn wir nicht immer die gleiche Haltung haben.

 Machen Sie beide einen Unterschied zwischen der beruflichen Lektüre von Literatur und der privaten? Also: Lesen Sie anders, wenn Sie wissen, dass Sie über dieses Buch nicht schreiben müssen?

Hage: Natürlich stellt sich die Frage: Kann man als Kritiker noch lustvoll lesen, ohne Verwertungszusammenhang? Das ist für mich tatsächlich immer schwieriger geworden. Kaum stolpere ich irgendwo über einen tollen, zitierbaren Satz, streiche ich ihn schon an, obwohl ich eigentlich nur Ferienlektüre vor mir habe.

Weidermann: Also ich habe tatsächlich im Urlaub auch gern mal ein paar Balzac-Bände dabei, aber da schreibe ich nichts ab, ich habe auch keinen Bleistift, mit dem ich etwas anstreiche. Ich bin wirklich sehr glücklich darüber, dass ich immer noch so gern lese, obwohl ich beruflich so viel lesen muss.

Aber bei zeitgenössischer Literatur sollte man dann doch immer daran denken, dass man sie irgendwann beurteilen muss?

Weidermann: Ja, das nervt. Man muss so viel anfangen zu lesen und bricht dann immer wieder ab, weil es einem nicht gefällt. Da haben es die Bücher auch manchmal schwer. Wenn man fürs „Literarische Quartett“ auswählen muss und nach 20 Seiten immer noch nichts Bemerkenswertes geschehen ist, greift man notwendigerweise gleich zum nächsten Titel. Das ist dann schon blöd. 

Viele Leser fragen sich ja, wie die Kritiker diese große Menge von Büchern überhaupt verarbeiten können.

Weidermann: Und da kommt man zu der tollen Erkenntnis: Alles geht immer schneller in dieser Welt, aber das lesen eben nicht. Man kann das nicht beschleunigen. Ich kann ja auch nicht schneller denken, nur weil ich es möchte.

Hage: In den Sechzigerjahren gab es mal so eine Schule »Schneller lesen«, das ging tatsächlich schneller …

Sie beide bekommen von den Verlagen Massen von Rezensionsexemplaren der literarischen Neuerscheinungen zugeschickt. Wie gehen Sie damit um? Nach welchem System heben Sie Bücher auf?

Hage: Natürlich Klassiker, Bücher, die ich schätze, schöne Ausgaben, Gesamtausgaben.

Weidermann: Ich mache es genauso. In Berlin habe ich jetzt inzwischen drei Büros, in denen meine Bücher stehen. Es ist einfach wichtig, dass ich von den Autoren, die ich von Anfang an kritisch begleitet habe, auch alle Titel zur Verfügung habe. Gerade wenn ich noch mal über sie schreibe.

Hage: Dazu kann ich etwas sagen, weil ich ja schon nicht mehr als Kritiker arbeite. Ich habe damals auch von allen wichtigen zeitgenössischen Autoren eigentlich alles aufgehoben. Wenn man aber jetzt zu Hause die große Bibliothek noch mal durchgeht, weil man ja nicht alles aufheben kann, dann sagt man sich bald: über den oder den muss ich jetzt sowieso nicht mehr schreiben. So fällt es einem auch leichter, sich von diesen Büchern zu trennen. Ich nenne keine Namen, aber dann siebt man schon aus.

Weidermann: Das mache ich jetzt schon so. Wenn ein Autor nur ein gutes Buch am Anfang geschrieben hat und danach nur noch drei Schrott-Bücher, dann kann ich auch alles gleich aussortieren. Ich brauche den Platz für anderes.

Dann kommen die Bücher, die einst mit so viel Herzblut geschrieben wurden, zum Bücherflohmarkt oder gar ins Altpapier?

Weidermann: Das bleibt ja dann nicht aus, ja.

Was wissen Literaturkritiker, was Sie nicht wissen? Mit fünf aus 150 Wissensfragen aus dem Buch können Sie hier Ihr Wissen prüfen:

Welchen Beruf hat der amerikanische Krimiautor John Grisham ursprünglich ausgeübt?

a Rechtsanwalt  

b Immobilienmakler  

c Gar keinen  

d Politiker  

Was haben die Romane »Der Chronist der Winde«, »Das Herz der Finsternis« und »Der ewige Gärtner« gemeinsam?

a Sie thematisieren die Umweltzerstörung.

b Sie wurden im 19. Jahrhundert geschrieben.

c Ihre Autoren sind Briten.  

d Sie spielen in Afrika.  

Welche deutsche Schauspielerin wurde auch durch Poetry-Slams bekannt?

a Sibel Kekilli  

b Julia Engelmann 

c Karoline Herfurth  

d Nora Tschirner 

In Erich Kästners  Roman »Emil und die Detektive« jagt eine Gruppe von Kindern einen Verbrecher. Wie lautet dessen Name?

a Ede  

b Grundeis  

c Bieberkopf  

d Hartmann  

Welcher russische Komponist spielt die Hauptrolle in Julian Barnes’ Roman »Der Lärm der Zeit«?

a Stravinsky  

b Schostakowitsch  

c Prokofjew  

d Tschaikowsky  

Interviewauszug und Fragen aus:
Martin Doerry, Volker Hage: „Wen liebte Goethes "Faust"? Der große SPIEGEL-Wissenstest Literatur“. KiWi-Taschenbuch, Broschur, 192 Seiten, 6 Euro. Auch als E-Book.