Brauche ich ein bestimmtes Buch oder einfach etwas zu lesen, muss ich nur die Wohnung verlassen und um die nächste Ecke gehen. Nach wenigen Schritten stehe ich vor meiner Lieblingsbuchhandlung. Vor den Schaufenstern grüßen die auf der Kastanienallee heute obligatorischen Ansichtskartenständer, hier sind es drei, ich bin auf dem kurzen Weg, ich habe sie gezählt, an 22 weiteren vorbeigekommen.
Die Drehständer vor dem Buchladen zur schwankenden Weltkugel locken mit Schriftstellerporträts, ein lockiger Erich Mühsam sieht mich an, Oscar Wilde (sitzend, auf einen Stock gestützt, eine Hand an der Wange) ist dabei, eine melancholisch dreinschauende Inge Müller und eine junge Hannah Arendt mit kurzen Haaren. Andere Karten zeigen, wie romantisch-ruinös die Stadt Berlin einmal war. Und wie reizend retro-charmant die Architektur der DDR-Moderne sich präsentieren kann. Es gibt sogar eine Ansichtskarte des Gebäudes, in dem die Lieblingsbuchhandlung ihre Räume hat – ein einst besetzter, heute legalisierter Altbau, der wie ein Relikt zwischen luxussanierten Nachbarhäusern steht.
Die Ansichtskarten bringen Umsatz und Laufkundschaft in die Schwankende Weltkugel. Der Name ist eine Hommage an die großartige Schriftstellerin Franziska Gräfin zu Reventlow und ihre Novelle "Das Logierhaus zur schwankenden Weltkugel"; Reventlow scherte sich um 1900 wenig um gesellschaftliche Konventionen und reüssierte als Selbstverdienerin und alleinerziehende Mutter in der Münchner Boheme.
In den beiden schmalen Schaufenstern links und rechts der Glastür sind die Titel der Woche ausgestellt, rechts oben sehe ich »Wollen wir ewig leben? Die Wellness-Epidemie, die Gewissheit des Todes und unsere Illusion von Kontrolle«, ein Buch der geschätzten amerikanischen Autorin Barbara Ehrenreich. Der deutsche Untertitel ist so lang, ich habe das Gefühl, ich hätte das Buch nun schon gelesen. Gleich daneben stehen Alice Schmidts "Tagebücher der Jahre 1948/49" (ihr Mann Arno Schmidt war damals noch unbekannter als er zeit seines Lebens bleiben würde) und Silvia Bovenschens posthum erschienener Roman "Lug und Trug und Rat und Streben".
Es ist nicht ungefährlich, die Schwankende Weltkugel zu betreten. Nicht, dass der Boden im Laden nachgeben oder wackeln würde, nein, es ist nur so, dass ich am liebsten fast alle Bücher, die sich mir präsentieren, kaufen würde. Es gibt Buchhandlungen, die ich ungern besuche, weil ich in ihnen nach wenigen Minuten vor Langweile sterben möchte. In der Schwankenden Weltkugel ist es jedoch, ich sehe mich um, genau umgekehrt. Hier möchte ich am liebsten (auch wenn es trotz aller Bemühungen nicht möglich sein wird) ewig leben, um all das zu lesen, was hier in den orangefarbenen Regalen wartet: die Literaturzeitschriften, die Taschenbücher, die sich um die Kasse herum zeigen, Veröffentlichungen zur Stadtentwicklung, politische, philosophische und kunsttheoretische Neuerscheinungen und Bücher von Verlagen, die anderswo nicht zu finden sind, all die Titel, auf die ich ohne diese Buchhandlung nie stoßen würde. Und genau das ist ja die Kunst, ja das Genie des guten Buchhandels: Bücher auszustellen und vorrätig zu haben, von denen ich noch gar nicht wusste, dass ich mich für sie interessiere. Die ich dann unbedingt lesen muss.
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