Gastspiel von Rainer Moritz

Aquitanische Rinder und ihre Wirkung auf die Literatur

4. August 2017
Redaktion Börsenblatt
Im Südwesten Frankreichs zwischen Pau und Biarritz verschmelzen Natur und Literatur unauflöslich miteinander, wenn man es richtig anstellt. Rainer Moritz über den Zusammenhang von Romanen und Rindern.

Uns sehr modernen Menschen fällt es zusehends schwer, sich auf eine Sache zu konzentrieren, zudem man uns einzureden versucht, dass Multitasking erstrebenswert sei. Sich fünf Stunden am Stück auf ein Buch einzulassen, das – so denkt man naiverweise – wäre fein, doch wie ich neulich feststellte, kann es noch feiner sein, sich zwischen Natur- und Lektüreeindrücken hin und her treiben zu lassen.

Vor Kurzem war ich im Südwesten Frankreichs, genauer: im prächtigen Château d’Orion zwischen Pau und Biarritz. Eine ganze Woche lang lasen und diskutierten wir Marcel Prousts dicken Roman »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Wenn wir das nicht taten, aßen wir regionale Spezialitäten, tranken den empfehlenswerten Rotwein der Domaine Villa Bys, sprachen über Gott und die Welt, lustwandelten durch den Gemüsegarten und lasen, wenn wir von den berühmten Madeleine- und Montjouvain-Szenen bei Proust genug hatten, andere Bücher. Iris Wolffs großartigen Roman »So tun, als ob es regnet« zum Beispiel, der in Siebenbürgen spielt und den ich in den kommenden Monaten auf allen Buchpreislisten ganz oben ­sehen will. Oder ich verharrte regungslos in meinem Liegestuhl, dachte über mein Leben nach und fuhr mit den Augen die Pyrenäenkette am Horizont ab. Das beruhigt sehr, vor allem wenn man zuvor eine Stunde lang Prousts Ernährungs- und Verdauungsprobleme erörtert hat.

Noch beruhigender freilich war es für mich, auf die Weide unterhalb des Schlosses zu blicken und rund 20 wunderbaren Kühen beim Grasen und Wiederkäuen zuzusehen. Blonde d’Aquitaine nennt sich die dort ansässige Rasse schwerer, hellbraun-gelblicher Tiere, fleischige, besonnen wirkende Geschöpfe, die über eine Tonne wiegen und sich, wie ich lernte, dank ihres großen Beckens durch eine gewisse »Leichtkalbigkeit« auszeichnen – ein Wort, das ich vor meiner Proust-Reise gar nicht kannte und das ich mir merken werde.

Auch nach Tagen gelang es mir nicht, das System nachzu-zeichnen, das den Bewegungsabläufen der selbstbewusst-muskulösen aquitanischen Rinder zugrunde liegt. Wann legen sie sich nieder, wo und wie lange? Welche Ecken der Weide meiden sie? Zwei von ihnen ließen sich – auch das interessant – auf ein zartes Liebesspiel ein, das mich wiederum an Proust gemahnte. Vielleicht, dachte ich mir, wäre es überdies schön, mal wieder Arno Schmidts Erzählung »Kühe in Halbtrauer« zu lesen. Oder Florian Werners Studie »Die Kuh«.

Besonders aufschlussreich war der Fremdling unter diesen ­Kühen, ein schwarz-weißes Holsteiner Rind, das von seinen französischen Artgenossen gemeinerweise geschnitten wurde. Keiner von denen muhte mit der norddeutschen Migrationskuh, mit der Geflüchteten, wie man wohl korrekterweise sagen muss. Der sechste Proust-Band heißt übrigens »La fugitive« ... Schnöde ließen die Blondes d’Aquitaine den Außenseiter links liegen, was mich wiederum zu politischen Reflexionen anregte. Bis wir wieder nach der verlorenen Zeit suchten und vom dunklen, scharfen Basilikum kosteten.

So vergingen meine Tage zwischen Iris Wolff, Proust, Weiderindern, unter einer Platane, die mehrere Jahrhunderte auf ihren Ästen hat. Natur und Literatur verschmolzen unauflöslich miteinander, wie ich es zuletzt bei der »Heidi«-Lektüre in meiner Kindheit erfahren durfte. Ermattet von all diesen Eindrücken kehrte ich nächtens in mein Schlossgemach zurück und ermittelte über die Suchfunktion meines Readers, dass in Prousts monumentalem Werk immerhin 17 Mal von Kühen die Rede ist. Das ist nicht oft. Warum das so ist und was das über Proust und die Kühe aussagt, davon erzähle ich beim nächsten Mal, versprochen.