Dankesrede von Roland Reuß

Für die Freiheit des Geistes

20. Juni 2017
Redaktion Börsenblatt
Der Literaturwissenschaftler und Mitinitiator des "Heidelberger Appells", Roland Reuß, ist auf den Buchtagen in Berlin als "Förderer des Buchs" geehrt worden. boersenblatt.net veröffentlicht seine Dankesrede im Wortlaut.

"Sehr geehrter, lieber Herr Riethmüller,
lieber Herr Skipis,
lieber Herr Sprang,
lieber Herr Ulmer,
verehrte Anwesende,

lassen Sie mich für die Ehrung und die freundlichen Worte, die Sie mit ihr verknüpfen, ausdrücklich Dank sagen.

Mir bedeutet sie sehr viel. Sie rührt mich, weil mir der Gegenstand ›Buch‹ aus den verschiedensten Gründen, darunter auch politischen, als Autor, als Typograph, als Designer, am Herzen liegt – und ich mich auch immer wieder für das Buch (dem ‚richtigen‘ Buch, dem Buch als Codex) als dem ausgezeichneten Medium konzentrierter Lektüre starkgemacht habe. Konzentrierte Lektüre gegenüber der heute gängigen Abrichtung auf ‚einfachen‘ Informationsabgriff (und was man da so ‚lesen‘ nennt). Daß es heutzutage wieder im Schnittpunkt politischer Interessen liegt und von dort seine Existenzberechtigung in manchen Publikationsbereichen in Frage gestellt wird, ist, entgegen dem ersten Anschein, ein gutes Zeichen, weil gerade das seine außerordentliche Bedeutung, vielleicht sogar Brisanz, unterstreicht. Daß manche (nicht selten mit ‚entrepreneurialen‘ Eigeninteressen) das Buch für verzichtbar erachten, halte ich für einen Ausdruck schwachen Denkens, durch den man sich nicht irre machen lassen sollte. Es touren viele Propheten durch die Lande, die ihre Gesichte auf der schwanken Basis ungedeckter Schecks haben. Und die digitale Blase, die sich über diesem Blabla aufgebläht hat, wird genauso platzen wie 2007 die Immobilienblase geplatzt ist.

1960 sprachen die meisten – und am lautesten natürlich die, die davon profitierten – vom ‚Atomzeitalter‘. Und auch das großindustrielle Versprechen einer rosigen, mit vielen neuen Arbeitsplätzen gesegneten Zukunft wurde uns damals bereits eingehämmert. Genauso besinnungslos wird heute vom ‚digitalen Zeitalter‘ gesprochen. Dem lag 1960 und dem liegt auch heute eine spezielle Buchführung zugrunde, die die wirklichen Kosten, ökonomisch und gesellschaftlich, verschweigt.

Gestatten Sie mir vor diesem Hintergrund, als Ausdruck meines Dankes, einige Sätze der Erinnerung (im Vollsinn dieses Wortes) vorzubringen. Und dann auch ein paar Wünsche zu äußern. Wenn man keine Wünsche ans Leben, an die Gesellschaft, an die Verständigungsverhältnisse mehr hat, braucht man nur noch eine zweite Person, die den Sargdeckel zumacht. So weit bin ich noch nicht.

Die Artikulation meiner Wünsche geschieht freilich in einen eigentümlichen Hallraum hinein. Da ist einmal dieses eigentümliche „nichtaussetzende Brausen“ (so nennt es der Autor Franz Kafka in seinem vom Verleger Kurt Wolff publizierten Text „Auf der Galerie“) „des Orchesters und der Ventilatoren“ (der Windmaschinen) der großen Wissenschaftsorganisationen, der Max Planck-Gesellschaft, der DFG, der Leibniz und Helmholtz Gemeinschaften, der an Global-Player- und universalen Vernetzungs- und Vernutzungsphantasien sich berauschenden Bibliotheken, „begleitet“ – jetzt wieder Kafka – „vom vergehenden und neu anschwellenden Beifallsklatschen der Hände“ der goldenen, grünen und sonstwie farblich gezeichneten OpenAccess-Bewegten, jener Hände, die – wieder Kafka – „eigentlich Dampfhämmer sind“.

Hier hat sich eine Maschine und auch eine Ökonomie ausgebildet, die die – bei Gründung der Bundesrepublik programmatisch geforderte – Trennung von Wissenschaft und Politik seit geraumer Zeit hinter sich gelassen hat. Die Verantwortlichen zirkulieren in den jeweiligen Posten personal, freuen sich, bei Staatsbesuchen nach China oder sonstwohin mitgenommen zu werden, und haben sich längst schon daran gewöhnt, mehr mit den Ministern, gar der Kanzlerin, zu sprechen als mit den Wissenschaftlern, die sie gegenüber den Ministerien und der Politik eigentlich vertreten sollten. Es fällt in unserer konkreten Problemlage schwer, hier noch von Unabhängigkeit zu sprechen, wo doch die existierenden Geldflüsse ganz eindeutig die Exekution einer politisch gewollten digitalen Agenda (mit nie dagewesenen Steuerungs- und Kontrollmöglichkeiten) belegen. Mit skrupelloser Außerkraftsetzung von Individualrechten.

Bücher stören in diesem Bereich nur, sie geben numerisch-digital und für das allerliebste Kind der Wissenschaftsverwalter, die ‚Evaluation‘ (rein ‚quantitative Bewertung‘ darf man ja nicht sagen, das verstieße wahrscheinlich gegen die Menschenwürde), wenig her. Kurven und Kuchen- und Tortendiagramme und dergleichen statistische Köstlichkeiten hätte man gerne; Genie, Spiritualität aber läßt sich in diese qualitätsfernen Veranschaulichungen hinein nicht abbilden. Die Dominanz der Statistik läßt darauf schließen, daß die Wissenschaft und Kultur organisierenden Planungsstäbe in Deutschland, im Westen überhaupt, vielleicht gar keinen unruhigen Geist und auch keine abwägend-distanzierte Besinnung mehr wollen, sondern vielmehr gleich und ausschließlich ausbeutbares Wissen. Das aber wäre eine politische Bankrotterklärung. Am Ende des Wegs stünde die Schließung eines sterilen Systems.

Argumenten, gar Gegenargumenten ist diese brausende Allianz der Wissen-schaftsorganisationen, die die Besserwisserei als Existenzform kultiviert hat – das haben die letzten zehn Jahre gezeigt – nicht zugänglich. Auf abweichende Meinungen reagiert man, indem man die Finger in die Ohren steckt, alle Türen schließt und selbst noch lauter sein Brausen in die Welt schickt. Wenn Sie das übertrieben finden, lesen Sie nur, was die Max Planck Gesellschaft gegenwärtig als Präsentation auf ihrer Open Access-Roadshow einsetzt, dann wissen Sie, was ich meine.

Was als Abweichung übrig bleibt, wird als querulantisch neutralisiert, als altmodisch oder utopisch oder gleich als beides abqualifiziert, als egoistisch eingetütet und als unförderbar kaltgestellt. So ist es, wenn Wissenschaft – als kultivierte Praxis erkenntnisfördernder Dissidenz – auf den Hund kommt. Die zugrundeliegende Perspektive ist – und hier zitiere ich zum letzten Mal Kafkas Text „Auf der Galerie“ – „die immerfort weiter sich öffnende graue Zukunft“ eines komplett vom Staat finanzierten und d.h. auch kontrollierten Publikationssystems – ohne Buch, mit ganz ganz wenigen zynischen Oligopolverlagen und auch ohne dissidente Köpfe. Ein gremiengesteuertes Futur 4 Punkt irgendwas.

Neben dem erwähnten Dauerbrausen findet sich aber auch ein Schweigen, das, wenn man etwas genauer hinhört, fast noch lauter tönt als jenes Getöse. Wenn in einer historischen Situation, in der über die Produktionsbedingungen zunächst geisteswissenschaftlicher Autoren und deren durch Grundgesetz und Menschenrechtscarta garantierten Rechte durch eine anmaßende Gesetzgebung negativ entschieden werden soll, – wenn also in einer solchen Situation von Institutionen wie der Akademie für Sprache und Dichtung, der Akademie der Künste in Berlin und der in München, dem P.E.N., dem Goethe-Institut, den Literaturarchiven in Weimar, Wolfenbüttel und Marbach nichts, rein gar nichts im Bereich der Öffentlichkeit vernehmbar wird, dann kann man daran gut erkennen, wie sehr die Abhängigkeit vom politischen Apparat und den von ihm zugeleiteten Geldflüssen auch in diesen Institutionen und Verbänden fortgeschritten ist. Nach gefühlten Jahrzehnten großer Koalition und der korporatistischen Manus-manum-lavat-Unkultur, die sich hier, wie überall im Bereich der Wissenschaft und Kultur ausgebildet hat, ist Machtkuscheln offenbar für Intellektuelle zur alles überwölbenden Tugend geworden. Das ist schon fast wie China, wenn geistige Eliten zu rücksichtsvoll und sich selbst zu fein sind, für die Bewahrung ihrer unmittelbaren Produktionsmittel und ihrer verbürgten Rechte zu kämpfen. Und es ist peinigend, diese im Schweigen sich schreiend manifestierende selbstverschuldete Unmündigkeit bei der Einlösung ihrer Konformitätsboni beobachten zu müssen.

Von der wissenschaftsfeindlichen Drittmittelkorruption an den Universitäten will ich jetzt gar nicht anfangen. Dort greifen die Kontroll- und Steuerungsmechanismen der offiziellen Wissenschaftspolitik am effizientesten – ihr approbiertes Mittel ist die rostige Schere im Kopf des prekär Beschäftigten, aber auch des professoralen Beamten, dem die Selbstzensur durch seine lange Akkomodationslaufbahn zur zweiten Natur geworden ist. Ich war positiv überrascht, wie viele jüngere Wissenschaftler und Studenten gleichwohl den Appell zur „Publikationsfreiheit“ unterzeichnet haben – das ist etwas, was man gar nicht hoch genug einschätzen kann. Denn der Hort des Konformismus heutzutage, dessen – um den geforderten und auch geförderten Selbstanpreisungsjargon hier einmal gegen sich selbst zu wenden – eigentliches ‚Kompetenzzentrum‘, ist keineswegs das lokale Postamt oder die Volksbankfiliale um die Ecke, sondern die deutsche Universität.

Fast hätte ich damit, indirekt freilich, schon einen ersten Wunsch artikuliert. Aber das ist hier der falsche Ort, der Börsenverein des deutschen Buchhandels wird da wenig bewirken können. Dennoch würde ich mir wünschen, daß in den Stellenbeschreibungen für Führungspersonal auch der Nachweis von Mut und Zivilcourage als notwendige Bedingung für eine Bewerbung kodifiziert würde und nicht hauptsächlich Geschicklichkeit im Konkurrenzkampf und bei der ‚Einwerbung‘ von Drittmitteln, vulgo: die neue, allgegenwärtige Kampfsportart des akademischen und sonstigen networking. Jeder über sich selbst reflektierende politische Apparat müßte wissen, daß das: die Förderung wahrhaft freier Individuen – und nicht die andauernde Erpressung durch institutionelle und ökonomische Abhängigkeit – die Bedingungen freier Geistigkeit in allen betroffenen Kultur- und Wissenschaftsbereichen merklich verbesserte. Und damit die Aussicht auf ein tatsächlich humanes Fortschreiten.

Damit bin ich dann aber wirklich bei meinem ersten Wunsch, den der Börsenverein vielleicht in näherer Zukunft, mit etwas gutem Willen, erfüllen könnte – und vielleicht nicht nur mir, nicht nur der Branche, sondern sondern auch dem Publikationssektor insgesamt. Ein Teil der aktuellen Problemlage geht nämlich darauf zurück, daß die Politik, die von mir namhaft gemachten, mit den Ministerien kurzgeschlossenen Wissenschaftsorganisationen und der gegenüber dem Publikationssektor unverantwortlich handelnde deutsche Bibliotheksverband die Spannung, die immer schon zwischen Autoren und Verlagen existiert (es handelt sich um Vertragspartner mit partiell unterschiedlichen Interessen), soweit vertieft haben, daß man schon fast von einer Abspaltung sprechen kann.

Es ist putzig, daß hier – um Stimmung zu machen – von verantwortlicher Seite, dem BMJV, immer die Metapher von der gleichen Augenhöhe im Verhältnis Verleger und Autor ins Feld geführt wurde, die herzustellen sich der Justizapparat angeblich so sehr bemüht. Zugleich aber wird in Bezug auf Autorenrechte das rechtliche Verhältnis eines Drittmittelempfängers zu seiner Fördereinrichtung immer mehr – und vom Justizapparat mehr oder weniger ausdrücklich gefördert – auf den Status eines Publikationssklavens heruntergedrückt. Wenn man die Position des BMJV hier heuchlerisch nennt, ist das noch untertrieben. Autorenrechte interessieren dort keinen. Ein Bewußtsein davon, daß es Autoren vielleicht nicht nur um Geld und Abgeltung geht, übersteigt den Horizont der Unverantwortlichen. Der bewußtlose und in manchen Ministeriumsabteilungen von BMBF und BMJV offenbar auch bewußte Zynismus geht so weit, daß – wie im Entwurf zur Novelle des Urheberrechts – die mangelnde ökonomische Ausrichtung von Autoren sogar als Einladung für den Eingriff in ihrer Persönlichkeitsrechte herhält.

Sowohl die Autoren als auch die Verlage müssen sich dem Versuch, einen Keil zwischen sie zu treiben, widersetzen. Unaufmerksamkeit und Desolidarisierung in diesem Feld wäre ein gravierender Fehler. Wir müssen hier nicht diskutieren, was Verlage im Umgang mit Autoren alles falsch gemacht haben und weiterhin machen – und auch nicht, daß Autoren sich im Prinzip immer ungerecht von ihren Verlagen behandelt vorkommen, oder warum Autoren meinen, auch ohne den Schutzraum eines Verlags auszukommen. Hier muß sich auf beiden Seiten etwas ändern und zwar rasch. Aber begriffen werden muß auch, daß man dem Druck, der aus der Politik und den Verbänden in Richtung auf ein verstaatlichtes Publikationswesen nach dem Vorbild des öffentlich-rechtlichen Rundfunks kommt, nur gemeinsam widerstehen kann. Die Einrichtung eines Beirats von Autoren, der als Kommunikationsraum in Krisenzeiten für die Diskussion anstehender Probleme zur Verfügung steht, scheint mir unabdingbar, um diesen Widerstand zu organisieren. Das ist mein erster Wunsch.

Mein zweiter Wunsch zielt auf die Förderung einer freiwilligen Selbstverpflichtung auf Qualität, wie sie – hervorgegangen aus einer katastrophalen Krise – vergleichbar der deutsche Weinbau mit dem VdP etabliert hat. Sie würde eine Prüfung durch Lektorat sowie menschen- und buchwürdige Verarbeitung in Design und Typographie für das Lesepublikum ausweisen (gleichgültig, ob das als Siegel oder als Teil des Impressums geschieht) und damit die Leistung der Verlage für die Produktion des Buches unterstreichen. Dabei geht es nicht um das Segment der Buchproduktion, das von der bedauerlicherweise unterausgestatteten Stiftung Buchkunst gefördert wird (also dem Buch als Nobelprodukt), sondern um eine Auszeichnung des Standards, zu dem man sich bekennen, auf dessen Plateau man sich begeben sollte, wenn der Buchhandel insgesamt eine Zukunftsperspektive haben will.

Mir ist klar, daß damit Bücher, die Autoren selbst ‚setzen‘ (wenn man das so nennen kann) und die unlektoriert in einer Bibliotheksauflage zu für normale Käufer unerschwinglichen Preisen auf den Markt kommen, unmöglich werden. Aber die werden ohnedies verschwinden wie der Hund von der Autobahn. Verlage, die das als „Geschäftsmodell“ pflegen, haben Autoren und der Branche schon genug geschadet, indem sie den bekennenden Verlagsfeinden bereitwillig Argumente gegen Verlagsarbeit an die Hand gegeben haben. Nur wenn Autor und Verlag gemeinsam ein Produkt auf den Markt bringen, in dem sie ihre gemeinsame Arbeit materialisiert und in genauer Hinsicht auch geehrt finden, kommen wir aus der aktuellen Krise heraus. Dabei dürfen wir nicht in dem, was zu tun ist, unter unseren Möglichkeiten bleiben. Dann gibt es auch wieder eine farbenfrohe, nicht nur eine graue Zukunft.

Meine Damen und Herren, lieber Herr Riethmüller, lieber Herr Skipis, lieber Herr Sprang, lieber Herr Ulmer, verehrte Anwesende, ich danke Ihnen für die Geduld und wünsche mir ganz zum Schluß noch ein Drittes: Nachsicht mit meinen offenen Worten. Wir haben die Qualität, die Personalität und die offene Kommunikation auf unserer Seite – bringen wir sie offensiv zur Geltung.