Frankfurter Buchmesse ist eröffnet

Wir Kinder Goethes und Nervals

10. Oktober 2017
Redaktion Börsenblatt
Mit Emmanuel Macron und Angela Merkel, dem neuen französisch-deutschen Tandem, wurde die Frankfurter Buchmesse politisch hochrangig eröffnet.

"Du hast das Wort! Tu as la parole!", ein Film, der bei einem gemeinsamen Treffen deutscher und französischer Jugendlicher im Sommer in Frankfurt entstanden ist, war der Prolog zur Eröffnungsrede von Börsenvereinsvorsteher Heinrich Riethmüller. 29 junge Menschen aus beiden Ländern geben darin ihrer Begeisterung für Meinungsfreiheit und Demokratie Ausdruck. Ein Zeichen der Hoffnung in einer Zeit, in der autoritäre Diskurse auf dem Vormarsch sind.

Besonders willkommen hieß Riethmüller die Vertreterinnen und Vertreter des Ehrengastes Frankreich sowie der gesamten französischsprachigen Welt. Der Austausch und die Partnerschaft über Grenzen hinweg sei wichtiger denn je angesichts der Wahlerfolge rechtsextremer und fremdenfeindlicher Politiker beiderseits des Rheins. Autoren, Buchhändler und Verlage trügen gerade in unruhigen Zeiten eine große Verantwortung: für Dialog, verlässliche Information und Meinungsbildung. Riethmüller verwies auf die Unterdrückung von Meinungs- und Pressefreiheit in vielen Ländern, etwa in der Türkei oder in Saudi-Arabien. "Die Türkei ist derzeit das größte Gefängnis der Welt für Journalisten." Ein Lichtblick, dass die bis vor kurzem inhaftierte Autorin Asli Erdogan Gast der heutigen Eröffnung sei.

Einen Appell für den Erhalt einer vielfältigen Verlagslandschaft in Deutschland richtete der Vorsteher an die Bundeskanzlerin: "Setzen Sie sich bitte dringend dafür ein, die Rahmenbedingungen für eine unabhängige, lebendige und vielfältige Verlagslandschaft zu verbessern. Stoppen Sie den Verkauf des Urheberrechts!"

Auf die Widersprüche in einer Gesellschaft, in der Menschen von Angst und Verunsicherung getrieben werden, ging Buchmesse-Direktor Juergen Boos in seinen Begrüßungsworten ein. Wut und Hassbotschaften gingen meist von Menschen aus, die das Gefühl haben, von der Entwicklung überrollt zu werden. Mit entrüsteten Appellen komme man diesem Phänomen nicht bei. Nur mit Engagement, Witz, Poesie und Intellekt könne man etwas gegen die Reinheitsfantsaien und Verschwörungstheorien vom rechten Rand ausrichten. Boos zitierte Hannah Arendt, die einmal schrieb, dass die Welt nur in der Vielfalt der Perspektiven überlebensfähig sei.

"Francfort en français – Frankfurt auf Französisch" – selten hat das Motto eines Gastlandauftritts schon weit vor dem Auftakt eine Buchmesse so geprägt wie in diesem Jahr. Denn es war bei der Eröffnung nicht zu übersehen, dass sich hier nicht nur ein Nachbarland bei einem anderen präsentiert, sondern im Hintergrund ein ganz anderes, gemeinsames Projekt wirksam ist: die europäische Idee, deren wesentlicher Grundpfeiler die jahrhundertealte Beziehung zwischen Frankreich und Deutschland, zwischen der französischen und der deutschen Sprache ist. Eine Beziehung, die nie frei von Kontroversen war, aber durch Hass und Vergeltung nie ruiniert worden ist, wie der französische Staatspräsident Emmanuel Macron in seiner rhetorisch geübten, teilweise frei gehaltenen Rede bemerkte.

Macron erzählte zwei Anekdoten, die dieses besondere Verhältnis beleuchten: Als Goethe, wie sein Chronist Eckermann zu berichten weiß, eines Tages die französische Übersetzung seines "Faust" von Gérard de Nerval las, erschien ihm sein Werk frisch, neu und geistreich – gleichsam mit neuem Leben erfüllt. Und der französische Philosoph Paul Ricoeur, den Macron persönlich sehr schätzt, übersetzte in deutscher Kriegsgefangenschaft Werke von Edmund Husserl ins Französische, in dem er die Übersetzung auf den Rand der deutschen Ausgabe schrieb. Nach dem 2. Weltkrieg wurde daraus die erste Übersetzung des Phänomenologen in Frankreich. "Nous sommes les enfants de Goethe et Nerval" – "Wir sind die Kinder Goethes und Nervals" schloss Macron seine Rede, in der immer wieder seine leidenschaftliche Europa-Vision ("la refondation de l'Europe") durchbrach.

Die vielfältigen Verbindungen zwischen dem Deutschen und dem Französischen betonte auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (Macron: "Chère Angela"). Wobei sie bedauerte, kein Französisch zu können, aber immerhin Russisch, auch eine der großen europäischen Sprachen. Die Sprachbarrieren zwischen Frankreich und Deutschland müssten überwunden werden. In der Literatur beider Länder spiegele sich unsere demokratische Verfasstheit, sagte Merkel. "Wir wissen deshalb, wie unverzichtbar es ist, überall auf der Welt für das einzutreten, was uns wichtig ist." Wer wie sie in der DDR nicht jedes gewünschte Buch hätte lesen könne, wisse, was das bedeute. Auf die Aufforderung Heinrich Riethmüllers, sich für bessere Rahmenbedingungen zugunsten der Verlagsbranche einzusetzen, reagierte Merkel mit dem Eingeständnis, dass es in den vergangenen acht Jahren nicht gelungen sei, den Wunsch nach digitalem Zugang mit der Wahrung der geistig-schöpferischen Kräfte zu versöhnen. Gemeinsam mit Emmanuel Macron wolle sie versuchen, eine Lösung auf europäischer Ebene zu erreichen.

In Frankfurt ist mit Frankreich auch die gesamte französischsprachige Welt zu Gast, darunter auch Autoren wie der literarische Eröffnungsredner Wajdi Mouawad, der auf teilweise verstörende Weise den Verlust seiner ursprünglich libanesisch-arabischen Identität und seine Aufnahme in der Gastsprache Französisch vortrug und filmisch inszenierte. Ein schmerzhafter Prozess der Migration, der auch den Abschied von einer anderen Sprache einschließt.

Mit einem in der Geschichte der Buchmesse noch nie dagewesenen dreifachen gemeinsamen Hammerschlag von Angela Merkel, Emmanuel Macron und Heinrich Riethmüller war dann die 69. Frankfurter Buchmesse endgültig eröffnet.

Es schloss sich die traditionelle Besichtigung des Gastland-Pavillons an, den man als gelungenes Gesamtkunstwerk bezeichnen kann. Eine vielstimmige Präsentation, deren Architektur, Design und funktionale Gestaltung überzeugen. Alle Wände, Elemente und Bühnen arbeiten mit einer transparenten Holzkonstruktion, die durch rechtwinklige und diagonale Verstrebungen stabilisiert wird. Das Areal beherbergt nicht nur eine große Bibliothek mit 40.000 Bänden, sondern zahlreiche Zonen, die mit exquisit zusammengestellten Ausstellungen (zu Comic / Bandes dessinées, zu Kinder- und Jugendbuch), verschiedenen Erlebnisräumen (zum Beispiel einer VR-Station) sowie einer nachgebauten Gutenberg-Presse bestückt sind. Ein Café und ein Restaurant, das vom Pariser Gourmet-Gastronom Ferrandi betrieben wird, laden zudem zu Getränken und kulinarischen Genüssen ein. 

roe