Der Mindestlohn und die Buchbranche

Mehr oder weniger

14. Dezember 2016
Redaktion Börsenblatt
Seit zwei Jahren gilt der Mindestlohn. In der Buchbranche hat er vor allem die Praktikumslandschaft verändert – mit janusköpfigen Folgen: Nachwuchskräfte werden heute zwar besser vor Ausbeutung geschützt, finden aber auch weniger Einstiegsmöglichkeiten als früher.

Als das Börsenblatt Ende 2014, kurz vor Inkrafttreten des Mindestlohns, Branchenvertreter nach möglichen Auswirkungen der Lohnuntergrenze fragte, war die Stimmung eher düster. Zwar brauche gerade die Buchwirtschaft mit ihrem hohen Selbstausbeutungspotenzial dieses Gesetz, hieß es. Doch würden dadurch auch in vielen Bereichen Stellen weg­fallen. Vor allem der begrenzte finan­zielle Spielraum für Praktikantenlöhne könnte viele Verlage dazu bewegen, ihre Einstiegsmöglichkeiten in den Beruf ­drastisch zu reduzieren.

Knapp zwei Jahre später fällt die Bilanz deutlich positiver aus. »Das Geschrei von damals steht in keiner Relation zu den heutigen Tatsachen«, bringt es Matthias Ulmer, Geschäftsführer des Ulmer Verlags und Vorsitzender des Verleger-Ausschusses des Börsenvereins, auf den Punkt. Die meisten Verlage – große sowie Indies – und auch die meis­ten Buchhändler haben ihren Mitarbeitern schon vor dem 1. Januar 2015 mehr als den Mindestlohn bezahlt und waren folglich gar nicht betroffen. Nur wenige Ausnahmen wie Weltbild mussten Richtung 8,50 Euro anpassen.

Weniger Praktikumsplätze 

Bewahrheitet hat sich allerdings die Entwicklung bei den Praktika. Auch wenn belastbare Zahlen fehlen, deuten die Rückmeldungen, die etwa das Netzwerk Junge Verlagsmenschen oder das Internetportal buchkarriere.de bekommen, darauf hin, dass weniger Stellen angeboten werden als vor Einführung des Mindestlohns. Und darauf, dass der Bewerberkreis eingeschränkt ist: Verlage wie Rowohlt, Carlsen, Schöffling & Co. und viele andere schreiben nur noch Stellen für Pflichtpraktikanten aus, denen sie keinen Mindestlohn zahlen müssen. Das gilt zwar auch für kürzere Orientierungspraktika vor einer Berufsausbildung oder einem Studium, doch das hier angesetzte Zeitfernster von maximal drei Monaten ist für die Verlage wegen der Einarbeitungszeit und des Betreuungsaufwands eher unattraktiv. Am liebsten vergeben sie noch immer vier- bis sechsmonatige Praktika und weisen schon in der Ausschreibung darauf hin, dass der Zeitraum komplett in das Studium des Bewerbers fallen muss. Das berichtet Norsin Tancik von buchkarriere.de, die laufend solche Stellenanzeigen sichtet.

Das schließt nicht nur Quereinsteiger aus, die sich früher zugegebenermaßen bereitwillig auf die häufig schlecht bezahlten Langzeitpraktika einließen – auch viele Studierende kommen nicht mehr zum Zug. In den meisten Studienordnungen geisteswissenschaftlicher ­Fächer ist nämlich entweder gar kein Pflichtpraktikum vorgesehen oder nur eines über wenige Wochen. »Gerade Fachverlage werden darum über kurz oder lang ein Nachwuchsproblem bekommen«, glaubt Tancik.

Ihr ist nur ein einziger Verlag bekannt, der seine Praktika-Struktur nach 2015 beibehalten hat und ohne Wenn und Aber Mindestlohn bezahlt: Ravensburger. ­Jeder der jährlich rund 40 Praktikanten (in allen Bereichen der Unternehmensgruppe) erhält 1 350 Euro pro Monat bei einer 35-Stunden-Woche. Das Praktikum dauert sechs Monate, um den Nachwuchskräften »einen tieferen Einblick in das Unternehmen zu ermöglichen und ­ihnen qualifizierte Aufgaben, teilweise sogar eigene Projekte, zu übertragen«, sagt Kathrin Bilger, Leiterin der Personalentwicklung. Gute Praktikanten sollen früh ans Unternehmen gebunden werden, »und dazu gehört unter anderem schon im Praktikum eine faire Bezahlung«.

Der Ulmer Verlag zahlt immerhin 500 Euro pro Monat für Praktikanten ohne Erfahrung und 750 Euro für Semesterpraktikanten. »Das war aber schon vor der Mindestlohn-Regelung so«, erklärt Matthias Ulmer. Die einzige Veränderung, die es nun wegen des Gesetzes gibt, ist die Verkürzung der Praktika von sechs auf drei Monate. »Die meisten Praktikanten erwarten gar nichts und sind überrascht, dass es überhaupt eine Vergütung gibt«, hat Ulmer festgestellt. 

Die Diskussion um die Bezahlung kann er nicht verstehen. Für ihn ist es selbstverständlich, dass ein Arbeitgeber für ein Praktikum einen Obolus entrichtet, wenn auch nicht den Mindestlohn: »Ob ich 400 oder 800 Euro zahle, spielt doch weder in der Kalkulation eines Unternehmens eine wirkliche Rolle, noch für den Praktikanten, der drei Monate da ist.« Man müsse aber auch sagen: »Wenn ein Verlag bestimmte Tarife unterlaufen will und ein Bewerber bereit ist, dafür zu arbeiten, werden beide Seiten das hinbekommen – Mindestlohn hin oder her.«

Volontäre statt Praktikanten?

Beobachter sehen durch den Mindestlohn ein neues, altes Gespenst heraufziehen: Statt Praktika auszuschreiben, bieten manche Verlage verstärkt Volontariate an. Wie damit arbeitsrechtlich umgegangen werden muss, darüber herrscht nach wie vor allgemeine Ratlosigkeit. Eine Anfrage des Börsenvereins an das Bundesarbeitsministerium brachte immerhin hervor, dass Volontariate nicht zwangsläufig unter das Mindestlohngesetz fallen. Letztlich bleibt es aber immer eine Frage, wie die Tätigkeit hinter dem Begriff Volon­tariat konkret ausgestaltet ist.

Sei kein Ausbildungscharakter gegeben, warnte Medienrechtler Dominik Höch im Börsenblatt schon vor zwei ­Jahren, hätten Verlage vor dem Arbeitsgericht schlechte Karten. Doch trotz deutlichen Zähneknirschens beim Nachwuchs ist die Klagewelle ausgeblieben. Die Jungen Verlagsmenschen (JVM) haben gerade ihre nächste große Nachwuchs-Umfrage gestartet (hier die Ergebnisse der Umfrage von 2014). Parallel überlegen sie in einer bundesweiten Kooperation mit der Gewerkschaft Verdi, wie die Ausgangs­lage für Verlagsvolontäre verbessert werden kann, um eines Tages vielleicht einen ­Tarifvertrag nach dem Vorbild der Pressevolontäre durchsetzen zu können.

Dabei geht es nicht nur um die Bezahlung, sondern auch um fest definierte Ausbildungsinhalte und -ziele. »So wie wir es mitbekommen, haben noch immer die wenigsten Volontäre einen Ausbildungsplan, geschweige denn, dass dieser auch umgesetzt wird«, sagt die JVM-Vorsitzende Lena Augustin. Zwar hätten viele Verlage die Problematik erkannt, doch Veränderungen seien schwierig, so lange auf beiden Seiten das Bewusstsein herrsche: »Wenn es dieser Volontär nicht macht, macht es ein anderer.« Die JVM haben Konsequenzen gezogen und verbreiten nur noch Volontariatsangebote, »die sich am Mindestlohn orientieren«.

Solche Formulierungen, wie sie auch Verlage in ihren Ausschreibungen gern verwenden (etwa wenn von einer »Ver­gütung im branchenüblichen Rahmen« die Rede ist) verschleiern allerdings oft die wahren Rahmenbedingungen. Das jedenfalls gibt Norsin Tancik von buchkarriere.de zu Bedenken. Nach Einführung des Mindestlohns hatte sie bei vielen Verlagen noch eine große Unsicherheit festgestellt, welche Konditionen denn nun zu gelten haben und für wen. »Wir haben Ausschreibungen erhalten, die nachweislich den neuen Regelungen zuwiderliefen.« 

Das habe sich zwar gebessert, doch nach wie vor seien Stellenanzeigen für Einsteiger und Auszubildende eine »Black Box«. Eher selten, dass ein Verlag so viel preisgibt, wie es Kiepenheuer & Witsch vor über drei Jahren unfreiwillig getan hat. Das beworbene Volontariat für 500 Euro brutto plus Essensmärkchen erregte selbst in Vor-Mindestlohn-Zeiten die Gemüter. Heute zahlt KiWi 1.300 Eu­ro im Monat an seine aktuell fünf Volontäre (vier in Köln und einer bei Galiani in Berlin). »Das ist mit 8,60 Euro die Stunde knapp über dem Mindestlohn«, sagt die kaufmännische Geschäftsführerin Claudia Häußermann

Außerdem wird jeder Lektoratsvolontär nach der Ausbildung befristet für ein Jahr übernommen. Für die einzige Praktikantenstelle – drei Monate, zur Orientierung – zahlt KiWi eine Aufwandsentschädigung. Insgesamt hat der Mindestlohn keine großen Veränderungen im Verlag mit sich gebracht, sagt Häußermann. Sie kann sich aber gut vorstellen, dass ein flächendeckender Mindestlohn für Volontariate viele Verlage dazu zwingen würde, künftig weniger Plätze anzubieten. 

Der KiWi-Fall und die allgemeine Be­obachtung in Zeiten des Mindestlohns haben die Verlage vorsichtiger gemacht, sagen Insider. Negativ-PR in Sachen ­Arbeitsbedingungen und Vergütung wollen sie möglichst vermeiden. Denn auch einen anderen Faktor müssen Personaler bedenken: Die Demografie und die Entwicklung auf dem Fachkräftemarkt. Monika Kolb vom mediacampus frankfurt merkt, dass Unternehmen mehr darauf achten, auch in Zukunft genügend und vor allem gutes Personal zu haben. »Da ist der Mindestlohn dann gar nicht mehr das beherrschende Thema.« 

Vor allem im Buchhandel wird derzeit wieder verstärkt Nachwuchs gesucht. Überhaupt stehe die wirtschaftliche Stabilisierung der vergangenen beiden Jahre, etwa im Bereich digitaler Geschäftsmodelle, »der ganzen Mindestlohn-­Debatte diametral gegenüber«, so Monika Kolb. Neue Ausbildungsoffensiven, wie aktuell die von Hugendubel, seien starke ­Signale an die gesamte Branche. 

Der Münchner Filialist hat eine wirtschaftliche Talsohle durchlaufen und will im kommenden Jahr 50 Auszubildende einstellen und über Tarif bezahlen. Auch bei anderen Händlern bekämen studentische Hilfskräfte heute schon teilweise elf bis zwölf Euro, sagt Monika Kolb. Andererseits plädiert sie dafür, gewisse Grenzen realistisch zu betrachten: »Durch das G8-Gymnasium und die Bachelor-Abschlüsse haben wir heute nicht selten Berufseinsteiger, die erst um die 21 Jahre alt sind.« Ihnen genau so viel zu bezahlen wie gestandenen Arbeitskräften mit Berufs­erfahrung, wäre nur schwer vermittelbar.

Für die Arbeitgeber ist es oft eine Gratwanderung zwischen Wirtschaftlichkeit und der Attraktivität auf dem Bewerbermarkt. Zu beobachten ist aber, dass sich viele Verlage und Händler im Zweifelsfall für den Fördergedanken und damit für  die eigene Zukunftssicherung entscheiden. Bei Ravensburger möchte man »frühzeitig qualifizierte junge Menschen nach dem Hochschulabschluss für ein ­Volontariat, ein Traineeprogramm oder als feste Mitarbeiter im Rahmen eines Direkteinstiegs gewinnen«, sagt Kathrin Bilger. Rund 1.680 Euro zahlt der Verlag seinen 14 Volontären (35 Stunden pro Woche). Das spricht sich rum – im aktuellen Verlagsranking von buchkarriere.de belegt Ravensburger Platz 1 (allerdings sind derzeit nur knapp 50 Verlage gelistet).

Stephanie Hanel, erste Vorsitzende der Bücherfrauen, formuliert es so: »Bitte mehr Selbstbewusstsein, und zwar auf ­allen Seiten. Niemand profitiert langfris­tig davon, schlecht bezahlte Mitarbeiter zu haben, die bei der erstbesten Gelegenheit abwandern (müssen) oder gesundheitliche Schäden davontragen.«

Wohl auch aus diesem Grund hat die Bundesregierung den Mindestlohn gerade zum ersten Mal angehoben: Ab 2017 beträgt er 8,84 Euro brutto pro Stunde. In einer Verlagsstadt wie München, hat dort das Jobcenter ausgerechnet, ist das für viele Vollbeschäftigte zu wenig zum Leben. Hier müsste ein Single, der unabhängig von einer Grundsicherung (Hartz IV) leben will, einen Stundenlohn von 11,50 Euro erhalten, sagte Anette Farrenkopf in der „Süddeutschen Zeitung“ bereits Ende 2015. Die nächste Verhandlungsrunde zum Mindestlohn aber wird erst in zwei Jahren stattfinden. Dass die Lohnuntergrenze sich dann über 11 Euro einpendeln wird, steht nicht zu erwarten. 

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