Buchtage Berlin 2018

"Ein Universum wachsender Fremdsteuerung"

12. Juni 2018
Redaktion Börsenblatt
Harald Welzer sieht unsere Freiheit in Gefahr: Digitaltechnologien wie Künstliche Intelligenz beschnitten die Autonomie des Subjekts und seien nicht demokratisch legitimiert. Ein Sozialpsychologe, der routinierte Internet-Evangelisten das Fürchten lehrt.    

„Meine Vorträge bestehen häufig aus Vorbemerkungen“, schickt Harald Welzer, Soziologe, Sozialpsychologe und Autor des Buchs "Die smarte Diktatur: Der Angriff auf unsere Freiheit" (S. Fischer), seinem Vortrag voraus. „Erlauben Sie mir darum eine Vorbemerkung zum Thema Künstliche Intelligenz, von dem eben die Rede war: Unsere Zukunft wird nicht so sehr von Künstlicher Intelligenz als von künstlicher Dummheit geprägt sein.“ Denn, so Welzer, wozu brauche der Mensch KI, die ihn seiner wichtigsten Eigenschaften beraubt – der, ein soziales Wesen zu sein, das mit anderen interagiert. Jeder Denkakt sei sozial präformiert, und der Erfolg des Menschen in der Evolution beruhe gerade darauf. KI erzeuge nur Redundanzschleifen, die eine moderne Gesellschaft nicht weiterentwickeln.

"Unfassbare Naivität"
Protagonisten der KI zeichneten sich durch eine „unfassbare Naivität aus“, so Welzer. Und nennt das Beispiel Jeff Bezos, der in einem Interview davon geschwärmt hätte, das ganze Sonnensystem zu bevölkern. Darin sei Platz für eine Billion Menschen, zitiert Welzer den Amazon-Chef. Und darunter seien 1.000 Einsteins und 1.000 Mozarts.

Welzer hat die Lacher auf seiner Seite, kein Wunder in einem Publikum, das zuweilen ein ambivalentes Verhältnis zu Amazon hat. Aber auch wenn das Thema unfreiwillig Welzers kabarettistische Laune weckt, geht es ihm doch um eine sehr ernste Angelegenheit: das fundamentale Legitimationsdefizit digitaler Technologien. Ein öffentlicher, politischer Diskurs über den Sinn und die Zulässigkeit von KI finde nicht statt.

Die Weltvorstellung, die sich aus den Verlautbarungen und Büchern der Digitalchefs ableiten lasse, widerspreche diametral dem, was unseren Gesellschaftsentwurf ausmache: die Trennung von Privatem und Öffentlichem, das Private als Sphäre und Bedingung des Menschen, autonom zu handeln. Statt ein aufgeklärtes Subjekt zu sein, werde man zum Objekt einer Infrastruktur, die über einen verfügt. Wir bewegten uns auf ein "Universum wachsender Fremdsteuerung" zu, das "begründungsfrei" vorgebracht wird, so Welzer. Die Visionen von Bezos & Co. könne man nicht als Geschwafel abtun, so Welzer, "weil sie wirkmächtig seien, weil sie die Wirklichkeit imprägnieren, weil sie Zukunft einstellen".

Eine Welt, in der es nichts zu erzählen gibt
„Was ist eigentlich attraktiv an den KI-Anwendungen, frage ich mich als Sozialpsychologe“, fährt Welzer fort. KI führe doch in der Konsequenz dazu, dass man nicht mehr auf unvorhersehbare, nicht voreingestellte Situationen reagieren könne. Dabei bestehe das Leben doch, wie Odo Marquard es einmal formuliert habe, aus Widerfahrnissen. Hätte Odysseus ein GPS gehabt, hätte es die Odyssee nie gegeben, und hätte sich Penelope nie mit Freiern herumschlagen müssen. In einer Welt ohne Widerfahrnisse gäbe es aber auch nichts zu erzählen.

Die Digitalisierung werfe noch ganz andere Probleme auf, so Welzer. Sie bedeute eine ökologische Katastrophe, weil sie Unmengen an Strom und Ressourcen fresse. Jeder Klick im Netz löse Prozesse auf bis zu 2.000 Servern aus. Was die digitale Wirtschaft und ihre Wachstumslogik aber in seinen Augen diskreditiere, sei die Tatsache, dass sie mit den fundamentalen Fragen des  Lebens nichts zu tun habe.

Dass KI bestimmte Dinge verbessern könne, etwa in der Medizin, wollte Welzer aber nicht leugnen. Und auch in der anschließenden Diskussion gab es Zugeständnisse, nachdem ein Frager von Irrfahrten mit Stadtplan durch Berlin berichtete, die ihm das GPS nun ersparen würde. "Ja, Navigationssysteme sind eine der wichtigsten Erfindungen seit dem tiefen Teller." Tosender Applaus, Welzer schien die Stimmungslage des Auditoriums getroffen zu haben - doch hier und da blieb das Klatschen aus.