Buchtipp

"Gelegenheit zum Staunen"

3. März 2015
von Börsenblatt
Heute vor vier Monaten ist der große Erzähler Siegfried Lenz verstorben. Kurz vor seinem Tod ist bei Hoffmann und Campe unter dem Titel „Gelegenheit zum Staunen“ eine Sammlung seiner besten Essays erschienen. Sie erinnern an einen noch im hohen Alter neugierigen und kritischen Geist.

Er war ein ebenso fanatischer Leser wie kundiger Schriftsteller: Siegfried Lenz („der letzte Ostpreuße", wie sein jüngerer Kollege Artur Becker ihn stets mit Respekt zu nennen pflegte) setzte alles auf eine intime, geistige Begegnung zwischen Leser und Autor durch den Text. Dass er selbst ein brennender Leser war, belegen nicht nur sein Werk und sein gewaltiger Nachlass, den er ein halbes Jahr vor seinem Tod dem Literaturarchiv Marbach versprochen hatte. Er hatte ohne großes Aufhebens zu machen, Ordnung geschaffen und im gleichen Atemzug eine Stiftung gegründet, die nicht nur helfen wird, sein Werk für die Forschung zu erschließen, sondern mit dem Siegfried Lenz Preis Schriftsteller auf der ganzen Welt fördert – erster Preisträger war Amos Oz.

 In seinen Essays gibt Lenz über seine Begegnungen mit der Weltliteratur Auskunft, über Faulkner und Dostojewksi und viele andere. Lenz ist aber nie im Elfenbeinturm zuhause gewesen ("Ich zum Beispiel. Kennzeichen eines Jahrgangs"), Krieg und Heimatverlust sind fest in seinen Lebenslauf eingeschrieben, seine Zeitgenossen und den Literaturbetrieb behielt er stets im Blick. Sein eindringliches Pochen und Verweisen auf die Leistungen der polnischen Literatur wurde im Nachbarland immer mehr gewürdigt als hier, zu Unrecht. Man kann dem Verlag Hoffmann und Campe nur dafür danken, seinen Essay "Die Deutschen, die Polen und die Literatur" (1965) in die Sammlung aufgenommen zu haben.

Über seine bekannten Romane „Deutschstunde", „Heimatmuseum", darf man gerade seine unzähligen kurzen Texte nicht vergessen – nicht von ungefähr begründete Lenz' erster Erzählband „So zärtlich war Suleyken" den Ruhm des Autors, 120 Erzählungen verfasste er insgesamt. Seine Fähigkeit zu verdichten, in wenigen Seiten lebhafte Figuren und ganze Welten zu erschaffen, zeigt sich ebenso in Lenz' Essays - und zwar unmittelbarer, in direkter Ansprache des Lesers.

Ende der 90er Jahre zum Beispiel mochte er sich dem Hype und Schwanengesang vom „Ende der Gutenberg-Galaxis" nicht anschließen: In „Mutmaßungen über die Zukunft der Literatur" setzt er sich mit der Tradition des Erzählens, nicht nur im literarischen Sinn, auseinander, sehr dezidiert und eindringlich. Er kommt zum Schluss, dass die zum Ende des letzten Jahrtausends beschworene Fantasie der kollaborativ-kreativen Netzliteratur (heute weiterdiskutiert unter dem Schlagwort Social Reading) niemals das Ende der Literatur im bekannten Sinne einläuten könnte. „Gewiss, es wird immer nur einen Minorität sein, die die Literatur braucht; aber war es je anders?", fragt er.

In „Gelegenheit zum Müßiggang" verteidigt er die „schöpferische Nichtarbeit" gegen die fixe Idee, dass „der Inbegriff des menschlichen Lebens in der Leistungssteigerung liege". Er attackiert die „aufgeklärte" Welt für ihre Verdrängungsmechanismen des Menschlichen, ihre ausgestellte Sterilität, ihre „Kosmetik des Todes" („Über den Schmerz").

Siegfried Lenz stand immer auf eine angenehm unpathetische Weise auf der Seite des Menschen. Gerade der unvollkommenen. Was seine Essays so eindrücklich macht, ist Lenz' Fähigkeit, sich klar auszudrücken, rational abzuwägen, zu urteilen und das Beliebige zu vermeiden. Bei aller Schärfe der Urteilskraft, und das ist das immer wieder Erstaunliche, das Besondere an der Lektüre: Unterkühlt wirkt dieser Geist in keiner Sekunde. Wer es nicht glaubt, der lese: „Die Darstellung des Alters in der Literatur".

Siegfried Lenz: Gelegenheit zum Staunen. Ausgewählte Essays
Hoffmann und Campe, 448 S., 29 Euro.

kum