Sachbuch-Novitäten

Betrachtung der Welt

3. März 2015
von Sabine Schmidt
Vielversprechend sind die Sachbücher im Frühjahr: Ein Blick auf die Themenfelder Philosophie, Islamisierung, Wirtschaft und Gesundheit.
Frische Selbsterforschung

Alle Jahre wieder türmen sich die Vorschauen, Berge voller Arbeit warten - und Entdeckungen. Auch im Sachbuch. Da fällt der eigenwillige Diogenes auf, der in Säulengängen oder einer Tonne übernachtet haben soll, statt sich in eine Gesellschaft zu integrieren, die ihm nicht passte. An den griechischen Philosophen erinnert der Name des Verlags, der sich neben dem literarischen dem philosophischen Lesen verschrieben hat: Diogenes. Mit Rolf Dobelli zeigen die Zürcher, dass es auch in unserer hektischen, oberflächlichen Zeit viele Menschen gibt, die sich mit einem anregenden Buch zurückziehen und nachdenken wollen - Philosophie light für Laien und Einsteiger. Nach »Fragen an das Leben« erscheint jetzt Dobellis erstes Fragewerk in einer überarbeiteten Neuausgabe: »Wer bin ich?« Wer man ist, wenn man alles ausblendet, was mit Rollen zu tun hat, Status, Job, Hobbys oder die Ehe, fragt der Autor. Oder: »Welchen Fehler würden Sie nie zugeben?« (Diogenes, 29. April, 176 S., 16,90 Euro).
Der Selbsterforschung widmet sich auch Ludger Pfeil in »Du lebst, was du denkst« (Rowohlt Polaris, Juli, 224 S., 14,99 Euro). Er zeigt, dass niemand ganz offen ist, dass das Erleben vielmehr von oft nicht einmal bewussten Grundhaltungen geprägt ist. Das kann die Kommunikation gerade mit nahestehenden Menschen behindern: wenn das Leben für den einen etwa ein Spiel ist, für den anderen hingegen bitterer Ernst.
Jugendlichen und Studierenden Zeit und Raum zu geben, das eigene Selbst zu entwickeln und es zu reflektieren, dafür plädiert Nuccio Ordine in »Von der Nützlichkeit des Unnützen« - und trifft damit offensichtlich einen Nerv. Das gerade erschienene Werk des Philosophie-Stars aus Italien wurde in seiner Heimat sowie in Spanien, Frankreich und Griechenland bereits zum Bestseller (Graf, 272 S., 12 Euro). Ordine setzt auf umfassende Allgemeinbildung statt auf Effizienzmaximierung durch ein eng gefasstes, ausschließlich zielgerichtetes Fachstudium: auf Freiräume für Umwege, für kreative Prozesse und Individualität.
Was aber ist, wenn dieses Selbst älter und älter wird, aber nicht sterben will - und Wissenschaftler das Rätsel des Alterns weiter entschlüsseln und zudem Wege finden, den Tod noch mehr als heute schon möglich hinauszuzögern? Damit befasst sich Sebastian Knell in »Die Eroberung der Zeit« (Suhrkamp, 6. April, 700 S., 39,95 Euro). Wäre das ein Gewinn? Und ist es ungerecht, wenn sich nur Wohlhabende lebensverlängernde Therapien leisten können? Wer dieser Art Fragen auf den Grund gehen will, kann sich mit Christian Schüles Buch »Was ist Gerechtigkeit heute?« auseinandersetzen. Der Autor beschäftigt sich unter anderem mit Mindestlohn, Bankerboni und der Rente mit 63, und er überlegt, ob Gerechtigkeit nur eine Fiktion ist (Pattloch, 2. März, 288 S., 19,99 Euro)

Der Islam im Sog des Extreme 

Für Millionen Menschen ist Gerechtigkeit definitiv nur eine Vision: für all die, die ihre Familie nicht ernähren können, während andere im Überfluss leben, oder denen Milizionäre und Soldaten alles nehmen und nachhaltig ihre Existenzgrundlage, ihre Gegenwart und Zukunft zerstören. Wer kann, flieht in andere Länder, versucht, dort Fuß zu fassen. Die Türen stehen aber nur bedingt offen - und einige der Jungen, der Nachgeborenen zieht es dann wieder in die Ferne, schlimmer noch: in den Krieg. Lamya Kaddor hat ihnen und ihren deutschstämmigen Freunden ein Buch gewidmet: »Zum Töten bereit. Warum deutsche Jugendliche in den Krieg ziehen« (Piper, 16. Februar, 224 S., 14,99 Euro). Die Autorin wurde selbst als Tochter syrischer Einwanderer in Deutschland geboren, ist Religionslehrerin und Islamwissenschaftlerin und wurde zu einer der zehn einflussreichsten muslimischen Frauen -Europas gewählt. Sie beschreibt eine orientierungslose Generation und erklärt, was getan werden muss, um die Radikalisierung von Jugendlichen zu stoppen.
Unter denen, die vom Krieg und einer radikal-islamischen, frauenverachtenden Welt angezogen werden, sind auch Mädchen. Was das in Afghanistan bedeutet, berichtet Journalistin Jenny Nordberg in »Afghanistans verborgene Töchter« (Hoffmann und Campe, 11. März, 320 S., 20 Euro) - und von dem, was Eltern tun, um ihnen ein freieres Leben zu ermöglichen oder sich selbst ein besseres Ansehen zu verschaffen: Sie verkleiden sie als Jungen. Nordberg hat mit ihnen gesprochen: mit Müttern, die selbst als Jungen gelebt haben und ihre Töchter wie Söhne aufwachsen lassen; mit Kindern, die als Jungen aufwuchsen und zu Mädchen »zurückverwandelt« wurden, um sie zu verheiraten; und mit Frauen, die als Erwachsene weiter als Männer leben.
Wie extreme muslimische Gruppierungen mit Gewaltexzessen und Vertreibungen den Nahen und Mittleren Osten entchristianisieren wollen, dokumentiert die Islamwissenschaftlerin Rita Breuer in »Im Namen Allahs? Christenverfolgung im Islam« (Herder Spektrum, März, 192 S., 9,99 Euro) und beleuchtet die geschichtlichen und theologischen Hintergründe.
Dass von einem aggressiven Islam Europa bald direkt betroffen sein wird, prophezeit Journalist Bruno Schirra in »ISIS - Der globale Dschihad« (Econ, 27. Januar, 300 S., 18 Euro). Es sei nur eine Frage der Zeit, bis deutsche, französische oder österreichische Islamkrieger den Terror in europäische Städte tragen werden. Der Nahost-Experte legt dar, inwiefern seiner Meinung nach der Westen versagt, erklärt den Ursprung und die neue Qualität des Terrors und zeigt die Verbindungen zur deutschen Salafisten-Szene auf. Inwiefern wiederum die arabische Welt verantwortlich für die katastrophalen Entwicklungen ist, damit befasst sich Rainer Hermann in »Endstation islamischer Staat? Staatsversagen und Religionskrieg in der arabischen Welt« (dtv, April, 128 S., 12,90 Euro). Er befürchtet, dass wir dort den Beginn eines neuen Dreißigjährigen Krieges erleben, der auch Europa mehr verändern wird als alle anderen Ereignisse seit dem Zweiten Weltkrieg.
Wie sich Islamisten der Miliz Islamischer Staat in Irak und Syrien (ISIS) als größte Terrororganisation aller Zeiten aufbauen und ein riesiges Gebiet mit Großstädten, Waffenarsenalen und Ölvorkommen unter ihre Kontrolle bringen konnten, ergründet Behnam T. Said in »Islamischer Staat. IS-Miliz, al-Qaida und die deutschen Brigaden« (C. H. Beck, 224 S., 14,95 Euro). Themen sind auch, wie es zur Feindschaft zwischen ISIS und al-Qaida gekommen ist und warum so viele Islamisten aus Deutschland den Dschihad unterstützen.

Wider den Turbokapitalismus

Neben den Reflexionen über den Krieg erscheint das Nachdenken über Verbraucherschutz als harmlos. Weitergedacht bis zum Turbokapitalismus mit brutaler Ausbeutung, Ungerechtigkeit und Armut können diese beiden Themen dennoch eng zusammengehören. Darauf verweist Sarah Zierul in »Billig. Billiger. Banane« (Oekom, 23. Februar, 256 S., 19,95 Euro). Sie zeigt, welch dramatische Konsequenzen der Billigwahn in den Supermärkten hat: Während hier Rekordumsätze eingefahren werden, werden in den Anbauländern Naturparadiese zerstört, Menschenrechte missachtet und die Gesundheit Tausender gefährdet. In »Die Freihandelslüge« (DVA, März, 230 S., 14,99 Euro). befasst sich der Foodwatch-Gründer und Verbraucherschützer Thilo Bode mit dem Freihandelsabkommen TTIP und zeigt auf, »warum TTIP nur den Konzernen nützt - und uns allen schadet«. Bode befürchtet, dass Konzerne über unsere Zukunft bestimmen: Stärkere Arbeitnehmer- wie Verbraucherrechte könnten ebenso wie ein wirkungsvoller Umweltschutz von ihrer Gnade abhängen.
Eigentlich wissen wir es längst: Bei Weitem nicht alles, was Politiker und Manager aushecken, dient dem Gemeinwohl, sondern oft nur Unternehmen, Banken oder Einzelnen, die nicht selten einfach nur zocken. Finanzkrisen können die Folgen sein, nicht erst im 21. Jahrhundert. Schon das antike Griechenland ging so zugrunde, meint Bob Swarup. Er analysiert den irre anmutenden destruktiven Wahn in »Geld, Gier und Zerstörung« (Quadriga, 15. Mai, 469 S., 22 Euro), erklärt, »wie wir seit Jahrhunderten immer wieder unseren Wohlstand vernichten«, und zeigt, was wir tun müssten, um den endlosen Vernichtungskreislauf zu durchbrechen.
Dass eine andere, eine verantwortungsbewusste Ökonomie tatsächlich möglich ist, behauptet Tim Leberecht in »Business-Romantiker« - er konstatiert sogar eine »Sehnsucht nach einem anderen Wirtschaftsleben«. Mit den »Business-Romantikern« meint er Manager, die mit Engagement und Leidenschaft sinnvolle Produkte und begehrenswerte Marken schaffen wollen; und die zudem davon überzeugt sind, dass der Erfolg eines Unternehmens unmittelbar an der Zufriedenheit der Mitarbeiter wie der Kunden hängt (Droemer, 2. Februar, 352 S., 19,99 Euro). Dazu gehört, dass Arbeit und Leben im Gleichgewicht gehalten werden: Burn-out heißt das Schreckgespenst der Workaholics. Psychologin Heike Duken hat mit »Burnout für alle! Mit Volldampf in die Krise« (Mira TB, Juni, 9,99 Euro) einen schwarzhumorigen »Ratgeber« verfasst, der provokant den Weg zum Burn-out-Patienten beschreibt. Ihre Check- und To-do-Listen zur Dauerbelastung entlarven die Fallen des Jederzeit-verfügbar-Prinzips.
Wie die Strukturen für eine nachhaltige, auf das Gemeinwohl ausgerichtete Ökonomie aussehen sollten, darüber streiten Tomáš Sedláček und David Graeber in »Revolution oder Evolution. Das Ende des Kapitalismus?« (Hanser, 2. Februar, 144 S., 15,90 Euro). Sedláček ist Chefökonom der größten tschechischen Bank und Autor des Bestsellers »Die Ökonomie von Gut und Böse«, für den er den Deutschen Wirtschaftsbuchpreis 2012 erhielt, und bricht nun eine Lanze für einen reformierten Kapitalismus. Graeber, Professor an der London School of Economics, Mitinitiator der Occupy-Wall-Street-Bewegung und Autor des Bestsellers »Schulden: Die ersten 5 000 Jahre«, hält dagegen: Der Kapitalismus muss seiner Meinung nach durch ein anderes, gerechteres System ersetzt werden.

Fragwürdiges Gesundheitssystem 

Nicht nur das ökonomische Gesamtsystem, auch einzelne Bereiche sind der Kritik ausgesetzt, wie etwa das Gesundheitssystem. Karl Lauterbach engagiert sich hier und zieht in seinem neuen Buch gegen »Die Krebs-Industrie« (Rowohlt Berlin, 24. April, 256 S., 19,95 Euro) zu Felde. Der -Autor, Professor an der Universitätsklinik Köln und für die SPD Mitglied des Bundestags, zeigt auf, was schiefläuft: Es gebe eine ungerechte Zweiklassenmedizin gerade bei Krebs, falsche finanzielle Anreize für Kliniken und die Pharmaindustrie sowie mangelnde Transparenz, was Behandlungserfolge und -methoden betrifft. Unzufrieden mit dem Gesundheitssystem, das mehr und mehr von ökonomischen Vorgaben geleitet ist, ist auch Michael de Ridder. Er fragt: »Welche Medizin wollen wir?« (DVA, 16. März, 304 S., 19,99 Euro), und er legt dar, »warum wir den Menschen wieder in den Mittelpunkt des ärztlichen Handelns stellen müssen«.
Was aber ist, wenn ein Leben eigentlich zu Ende ist, wenn das Gehirn nicht mehr funktioniert? Diesen Fragestellungen widmet sich Martina Rosenberg in »Anklage: Sterbehilfe« (Blanvalet, 2. März, 240 S., 19,99 Euro). Die Autorin, die 2012 in »Mutter, wann stirbst du endlich?« berichtet hat, wie belastend die Pflege demenzkranker Angehöriger ist, schreibt jetzt über einen Mann, der zu drei Jahren Haft verurteilt wurde: Er tötete seine Mutter, die sieben Jahre in einem Pflegeheim im Wachkoma gelegen hatte. Rosenberg beklagt, dass wir in einer Gesellschaft leben, die mitfühlende Angehörige zu Straftätern macht. Der Umgang mit dem Tod ist auch das Thema von Gerhard Pott und Durk Meijer in »Sterbebegleitung in Europa« (Schattauer TB, 31. März, 128 S., 19,99 Euro). Die Palliativmediziner verdeutlichen am Beispiel der Niederlande und Deutschlands die unterschiedlichen Positionen in Europa zur Hilfe beim Sterben, zum assistierten Suizid und zur Tötung auf Verlangen.
Den Ideologien bezüglich des »richtigen« Sterbens entsprechen die Ideologien zur »richtigen« Ernährung; inzwischen tut sich ein wahres Schlachtfeld weltanschaulicher Auseinandersetzungen auf, ob denn veganes, laktose- oder glutenfreies Essen das bessere sei. Die Ernährungswissenschaftlerin Hanni Rützler und Kulturwissenschaftler Wolfgang Reiter analysieren in »Muss denn Essen Sünde sein? Orientierung im Dschungel der Ernährungsideologien« (Brandstätter, 9. Februar, 192 S., 19,90 Euro) die Debatten, entlarven Mythen der gesunden Ernährung, plädieren für einen entspannteren Umgang mit Essen und für die Wiederentdeckung des Genusses.
Das eigene Halbwissen über gesunde Ernährung ist mit einem grafisch äußerst gelungenen Band fundiert zu erweitern: Einprägsame Infografiken vermitteln sehr unterhaltsam die Zusammenhänge unserer Ernährung mit den Folgen für die Umwelt. Und 48 Kochrezepte beweisen, dass wegen der saisonalen und regionalen Ausrichtung der Zutaten Umweltschutz und Genuss in Einklang zu bringen sind: Es sind im besten Sinne »Rezepte für die Zukunft« (Becker Joest Volk, 1. März, 168 S., 37 Euro).