Bildungskonferenz in Hamburg

Die Schule und das Netz

16. Juli 2015
von Börsenblatt
Wie viel Offenheit verträgt die Schule? Wer bestimmt, welche Fächer und Inhalte in den Schulen unterrichtet werden? Und wie gehen die Kultusministerien und Schulbuchverlage mit kostenlosen Lernmaterialien im Netz um? Dies waren wichtige Fragen, die Ende November auf der Hamburger Konferenz „In Theorie und Praxis: Wer bestimmt, was Schüler lernen?“ in zahlreichen Vorträgen und Diskussionen reflektiert wurden. Eingeladen hatten der Verband Bildungsmedien und die Ludwig-Maximilians-Universität München.

Die Ansprüche, die die Bildungswirklichkeit an die Schulbuchverlage stellt, sind vielfältig. 40.000 Bildungseinrichtungen in 16 Bundesländern mit 20 Schularten und rund 50 verschiedenen Fächern sind von den Verlagen zu adressieren, wie Wolf-Rüdiger Feldmann, stellvertretender Vorsitzender des Verbands Bildungsmedien, auf der Bildungskonferenz in Hamburg sagte. Das bedeutet für die Verlage, dass sie ein hochkomplexes System sehr spezifisch mit den Inhalten bedienen müssen, die an der jeweiligen Schule, in den verschiedenen Klassenstufen benötigt werden. 2013 haben die Verlage rund 8.000 analoge und digitale Titel neu veröffentlicht; rund 60.000 Titel sind verfügbar.

Doch welche Rolle sollen die Bildungsverlage künftig noch spielen? Was nützen Unterrichtswerke mit definierten Inhalten, wenn Bundesländer die Lehrpläne immer weiter öffnen und nur noch einen curricularen Rahmen setzen? Und wer setzt noch die Standards, wenn die Auswahl der Lerninhalte in wachsendem Maße an Lehrer delegiert wird?

 

Offene Bildungspläne brauchen Standards
Bundesländer wie Hamburg haben vor einigen Jahren offene Bildungspläne eingeführt, um dem Wunsch der Schulen nach mehr Gestaltungsspielraum entgegenzukommen. Im Vordergrund stand dabei der Erwerb von Kompetenzen. Hamburgs Schulsenator Ties Rabe hat inzwischen die Risiken des Modells erkannt: Die Offenheit in der Lehrplangestaltung führt zu erheblichen Unterschieden zwischen verschiedenen Schulen, aber auch an den Schulen selbst. Die Freizügigkeit habe auch zu gewissen Auswüchsen geführt: So sei an einigen Grundschulen die vierte Grundrechenart, das Dividieren, weggefallen. Die Antike habe in einigen Schulen bei den Ägyptern aufgehört (wen interessieren schon Griechen und Römer). An anderen Schulen seien Vokabeltests „verboten“. Dies alles bedeute „zu viel Unübersichtlichkeit“. Da sei etwas „vor sich hin entstanden“, das man korrigieren müsse, so Rabe. Inzwischen denkt der Senator und erfahrene Pädagoge über eine „inhaltliche Rahmensetzung“ nach. In der Vielfalt müsse es bestimmte Verlässlichkeiten geben.

Dies umso mehr, worauf Heinz-Peter Meidinger, Vorsitzender des Deutschen Philologenverbandes hinwies, als der „Zentralisierungsdruck in der Bildung“ zunehme – durch Vergleichsarbeiten zur Lernstandserhebung und durch zentrale, länderübergreifende Abiturprüfungen.

Welche „systemische Bedeutung“ Bildungsmedien für die Schule haben, beschrieb Wolf-Rüdiger Feldmann in seinem Vortrag. Die Schulbuchverlage seien der „Transmissionriemen für das, was die Bildungspolitik in den Schulen will“. Um die Vielzahl an Anforderungen der Lehrer und Schüler erfüllen zu können, sei die Setzung von Standards notwendig: „Schule braucht einheitliche Vorgaben – und nicht ‚etwas, das vor sich hin entstanden ist‘ – und individuelle Gestaltungsfreiheit.“

Der (digitale) Produktkranz wächst
Den digitalen Wandel unterstützen die Schulbuchverlage mit neuen Konzepten und Produkten. Der Produktkranz wächst – neben analogen Schulbüchern bieten die Verlagshäuser digitale Versionen der Lehrwerke, Apps, Online-Services und Lernplattformen, die immer stärker miteinander verzahnt werden. Vom gegenwärtigen Stand der Medienentwicklung und –verschränkung konnte man sich in einer weiteren Konferenzrunde ein Bild machen: bei den Präsentationen von „Scook“ (Cornelsen), des „Digitale Unterrichtsassistenten“ von Klett und der interaktiven Wandkarten zum Diercke-Weltatlas (Westermann).

Feldmann sieht zwei unterschiedliche Perspektiven auf das Thema Digitalisierung: das Lernen über digitale Medien (mit dem Ziel des digitalen Kompetenzerwerbs) sowie das Lernen mit digitalen Medien, das in Deutschland vor allem an der veralteten, lückenhaften Infrastruktur, der Unterfinanzierung des gesamten Bildungssystems, der fehlenden digitalen Kompetenz der Lehrkräfte sowie dem mangelnden Willen der Bildungspolitik, entsprechende Prioritäten zu setzen. So gibt es hinsichtlich der technischen Ausstattung ein großes Gefälle zwischen den Schulen: Unterrichtsräume, die komplett analog sind, und Klassenzimmer, in denen das Whiteboard ungenutzt in der Ecke steht, kontrastieren mit iPad-Klassen, die Lehrer und Eltern in Eigeninitiative ins Leben rufen, oder die an Privatschulen eingerichtet werden.

Deutsche Schüler zeigen Schwächen bei der Medienkompetenz
Wie wichtig für die Nutzung digitaler Medien im Unterricht die entsprechende Technologie-Kompetenz ist, zeigt die kürzlich veröffentlichte internationale Studie ICILS 2013 (ICILS = International Computer and Information Literacy Study). Sie stellt deutschen Schülerinnen und Schülern der achten Klasse kein besonders gutes Zeugnis aus. In der Zusammenfassung der Ergebnisse heißt es unter anderem: „Die weit verbreitete Annahme, Kinder und Jugendliche würden durch das Aufwachsen in einer von neuen Technologien geprägten Welt automatisch zu kompetenten Nutzerinnen und Nutzern digitaler Medien“ trifft nicht zu. Der Anteil von deutschen Schülern auf der höchsten Kompetenzstufe der insgesamt fünf Kompetenzstufen ist gering. Nur 1,5 Prozent der Schüler sind definitionsgemäß in der Lage, selbständig ermittelte Informationen sicher zu bewerten und zu organisieren sowie Dokumente und Informationsprodukte selbständig zu erzeugen. Fast jeder zweite Schüler (45,3 Prozent) erreicht nur das Kompetenzniveau III – also das „angeleitete Ermitteln von Informationen und Bearbeiten von Dokumenten sowie Erstellen einfacher Informationsprodukte“, beispielsweise die Anlage einer Textdatei.

Solange Initiativen wie die des nur digital unterrichtenden Kölner Gymnasiallehrers André Spang ein Einzelfall bleiben, wird sich an der Unterrichtssituation nichts Wesentliches ändern: Das gedruckte Schulbuch bleibt das Leitmedium, und die Nutzung digitaler Lehrwerke beschränkt sich auf Lehrer, die den Unterricht vorbereiten, oder auf Schüler, die die E-Book-Version zu Hause nutzen. Immerhin sind auf der Plattform des Verbands Bildungsmedien inzwischen 2.500 elektronische Schulbuchtitel aus 24 Verlagen eingestellt, wie Geschäftsführer Christoph Bornhorn sagt. Fortschritte gibt es auch bei Scook, wo sich inzwischen auch eine wachsende Zahl an Schülern registrieren lässt. Doch ob das digitale Engagement der Verlage auch wirtschaftliche Früchte trägt, ist nicht absehbar.

Kostenlose Lernmaterialien aus dem Netz
Je länger aber die Politik zuwartet, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass branchenfremde Anbieter kostenloser Lernmaterialien (Stichwort OER) den Markt betreten. Nur ein aktuelles Beispiel: Soeben haben die Freiwilligen Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter und die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen gemeinsam mit Google für den Medienunterricht einen „Werkzeugkasten Lernen & Lehren mit Apps“ herausgebracht, in dem gezeigt wird, mit welchen Internet-Tools man digitalen Unterricht bestreiten kann. Materialien und Apps aus Schulbuchverlagen kommen darin nicht vor.

Das Thema Open Educational Resources (OER) zog sich auch in Hamburg durch die Konferenz. Eva Matthes (Universität Augsburg) präsentierte Ergebnisse einer Studie über kostenlose Bildungsmedien. Man hat es mit einem Markt zu tun, der wenig transparent ist, und in dem nicht immer zu erkennen ist, welche Interessen hinter einem Produkt stehen. Dass Lehrkräfte von sich die Qualitätskontrolle leisten sollen, wie sie sonst bei eingeführten Unterrichtswerken erfolgt, sei eine Überforderung, so Matthes. Auch die Ministerien seien nicht in der Lage, die inzwischen massenhaft verbreiteten freien Materialien zu prüfen – zumal einige Bundesländer inzwischen auch aus dem staatlichen Prüfverfahren für Schulbücher ausgestiegen sind und sich auf die Prüfergebnisse der Nachbarländer verlassen. Wichtig sei es, Lehrern die nötige Orientierung zur Auswahl freier Lernmaterialien zu vermitteln. Eine Botschaft, die wiederum an die Adresse der Länder gerichtet ist: Die Lehrerausbildung müsste ganz anders aufgestellt werden, damit OER im Unterricht sinnvoll eingesetzt werden können.

 

Wird künftig nur noch in Netzwerken gelernt?
Wie Schule im Jahr 2030 aussehen könnte, war Thema der abschließenden Runde der Bildungskonferenz. Die These des Lehrers und Bloggers Torsten Larbig, Lernen finde in Zukunft nur noch in (digitalen) Netzwerken statt, die den zentralen Ort Schule und das herkömmliche Schulbuch gar nicht mehr brauchen, stieß auf Widerspruch.

 

Maren Saiko, Geschäftsführerin von C. C. Buchner, erwartet, dass Bildungsmittel auch in den nächsten 15 bis 20 Jahren in der Individualverfügung von Schülern sein werden. Und die GEW-Vertreterin Ilka Hoffmann griff Larbigs Netzwerkthese wegen ihrer sozialen Implikationen an: Sozial schwache Familien, die nicht über die nötigen Ressourcen für eine technische Ausstattung ihrer Kinder verfügen, würden durch ein solches Modell ausgegrenzt. Außerdem sei die Schule als „Sozialraum“, in dem gesellschaftliche Verhaltensweisen eingeübt werden, unverzichtbar.

 

Michael Roesler-Graichen

 

Präsentationen und weitere Bilder der Konferenz finden Sie hier.