Neu im Regal - Lesetipp der Woche

"Bücher sind indiskrete Spiegel und nicht ungefährlich"

3. März 2015
von Stefan Hauck
Ein Roman über die Macht der Bücher: Der mexikanische Schriftsteller Juan Villoro kontrastiert in einer Parabel die Welt der Bibliophilen und Bibliomanen mit dem Hier und Jetzt. Dabei zeigt er, wie wichtig es ist, keine Angst zu haben, dass vieles im Leben einfach auch geschieht.

Eine Brücke baut Juans Vater als Ingenieur in Paris, während sein Sohn in Mexiko versucht, zwischenmenschliche Brücken zu bauen. Denn auch wenn die Mutter zunächst von einer normalen Dienstreise spricht, wird nach und nach klar, dass die Eltern sich trennen, der Vater eine neue Liebe in Paris hat, die Mutter das Leben mit den Kindern und der Wohnung neu zu sortieren versucht. Behutsam schildert Villoro die Neuorientierungsphase mit den tausend Fragen, das Gefühl des Verlorenseins, als die Mutter die großen Ferien als Auszeit nutzt, um Juans kleinere Schwester Carmen bei einer Freundin und Juan beim verschrobenen Onkel Tito unterzubringen.

Der ist wie seine Vorfahren ein Bibliomane mit einem riesigen Haus voller raumhoher Bücherregale, in den unendlich scheinenden Fluchten der Räume kann man sich verlieren und anfangs muss Juan dringend eine Glocke läuten, damit der Onkel ihn finden und wieder zurückbringen kann. Obwohl Juan gar kein Bücherwurm ist, hat der Onkel ihn ihm ein besonderes Talent ausgemacht: Er ist ein Lector Princeps, den die Bücher als einen der ihren ansehen. Onkel Titos Ziel: Juan soll das wilde Buch finden, eines, das sich dem Leser entzieht, das bislang niemand gelesen hat: „Wenn du das Buch verdient hast, kommt es auch zu dir.“

Damit beginnt für Juan ein surreales Abenteuer, denn die Bücher verändern sich, sie wandern von selbst weiter, um an unerwarteter Stelle geduldig auf ihren Leser zu warten, andere entziehen sich jeglichen Ordnungssystemen. Juan lernt Spiegel-, Raub- und Schattenbücher kennen und versucht nach dem Try-and-Error-Prinzip die Eigenarten und Gesetzmäßigkeiten der Bücher herauszufinden. „Bücher sind so etwas wie Spiegel – jeder findet in ihnen das, was er in seinem Kopf hat. Das Problem dabei ist, dass das nur funktioniert, wenn du das richtige Buch liest“, lautet eine Erkenntnis. „Bücher sind indiskrete Spiegel und nicht ungefährlich; sie bringen dich auf Gedanken, die du nie in dir vermutet hättest.“

Mit seiner Parabel lotet Villoro die Welt der Bibliophilen und Bibliomanen aus, kontrastiert das Leben des einsamen Onkels mit dem des 13-jährigen Juan, der mitten in der Gegenwart lebt – umso mehr, als er sich in der Apotheke gegenüber in die gleichaltrige Catalina verliebt. Sie liest anderes in den Büchern, die Juan ihr aus der Bibliothek leiht, die Bücher werden interessanter, bedeutsamer, schöner, wenn sie geteilt werden, wenn man über sie sprechen kann. Gemeinsam machen sich die beiden auf die Suche nach dem wilden Buch, verfolgen Spuren, erleben Merkwürdiges und Catalina entdeckt das Geheimnis: Der Onkel hat immer nur in der Vergangenheit oder in der Zukunft gelebt. „Eine Gegenwart gab es in seinem Leben nicht. Noch nie hat er irgendwas mit jemandem geteilt. Und deswegen kann er das wilde Buch auch nicht finden.“

Catalina kennt als Apothekerstochter auch die passende Medizin für Tito: „Er muss Lust auf das Leben bekommen, intensive Gefühle entwickeln, und er darf keine Angst mehr davor haben, dass Dinge geschehen.“ Immer wieder baut Villoro zitierenswerte Lebensweisheiten in seinen Text ein, lässt seine Figuren nach und nach mehr Konturen, mehr Persönlichkeit bekommen, stellt Beziehungen her, schafft Erkenntnisse. Seine Parabel lebt aus vielen Bildern, die atmosphärisch unterstreichen: „In jenem Moment wäre ich ihr auf jedes Schlachtfeld gefolgt, selbst wenn ich als einzige Waffe ein Blasrohr dabei gehabt hätte“, skizziert er Juans Liebe zu Catalina. Ob das wilde Buch gefunden wird und wovon es handelt, sei hier nicht verraten – denn jeder Leser kann Villoros Parabel eben auch anders lesen.

Juan Villoro: „Das wilde Buch“. Hanser, 236 S., 14,90 Euro