Lesetipp der Woche

Leichenblasser Lord mit Biss

3. März 2015
von Börsenblatt
1816, im "Jahr ohne Sommer", schlug die Geburtsstunde zweier Nachtgestalten der phantastischen Literatur, die heute fest im Kulturkanon verankert sind: von Frankensteins Monster und dem (modernen) Vampir. Erdacht wurden die Schauergeschichten von einem Kreis um Lord Byron am Genfer See – im vorliegenden Band "Der Vampir" sind die beiden Texte über den aristokratischen Blutsauger vereint.

Der Sommer 1816 war für die Menschen kein guter: er war ungewöhnlich kalt und nass, Missernten und Hungersnöte waren die Folge. Verursacht hatte dies wohl der Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora im Jahr zuvor, bei dem eine riesige Menge Staub und Asche in die Atmosphäre geschleudert wurde.

Für die phantastische Literatur war das "Jahr ohne Sommer" dagegen ein bedeutender Marktstein. Am Genfer See traf sich eine kleine, illustre Schar junger britischer Literaten: Lord Byron, Percy B. Shelley, Mary Godwin (die später Shelley heiratet) und deren Schwester Claire Clairmont − sowie Byrons Leibarzt John William Polidori (1795-1821), der ebenfalls literarische Ambitionen hegte. "Ein fast ununterbrochener Regen fesselt uns ans Haus", schrieb Mary Godwin Anfang Juni 1816 in einem Brief nach England. Zum Zeitvertreib schlug Byron am 16. Juni vor, dass jeder eine Geistergeschichte verfassen solle.

Auch Polidori beteiligte sich, griff mit seiner Erzählung "The Vampyre" ("Der Vampir") aber offenbar die fallengelassene Idee Byrons auf (dessen Fragment ist ebenfalls abgedruckt; somit kann der Leser selbst vergleichen) und gab ihr seine eigene Handschrift. Der Text gilt heute als die erste Vampirerzählung in der schönen Literatur. Die Titelfigur unterscheidet sich deutlich von den Untoten aus den alten Volkslegenden: Lord Ruthven, ein neuer Typus des Vampirs, tritt als vornehmer Edelmann und Verführer in der Londoner Gesellschaft auf, das Blutsaugen geschieht am Rande – die Opfer sind Frauen. Sein Gegenpart ist der junge, vermögende Aubrey, ein Romantiker mit hoher Einbildungskraft ("Dichterträume waren für ihn Lebenswirklichkeit"). Gemeinsam reisen beide nach Rom, wo sich Aubrey vom zwielichten Lord trennt. Auf der nächsten Etappe seiner Grand Tour, Griechenland (nicht Transsylvanien!), stirbt seine große Liebe Janthe durch einen Vampirbiss. Kurz darauf ist auch der geheimnisvolle Lord wieder da. Es folgen der vermeintliche Tod Ruthvens und sein Wiederauftauchen in London. Dort wird gerade Aubreys Schwester in die Gesellschaft eingeführt. Man ahnt, was folgt.

In der kurzen Erzählung sind, wie in einer Blaupause, bereits viele Motive angelegt, die uns nach rund 200 Jahren mit Vampiren in Literatur und Film seltsam vertraut vorkommen. Christopher Lee scheint dem Leser an mancher Stelle zuzuzwinkern.  

Wer wissen möchte, wie der Vampir seinen Fuß in die Welt der schönen Literatur setzte, sollte zu diesem sorgfältig edierten Band greifen. Darin werden laut Verlag Polidoris literaturgeschichtlich bedeutende Schauergeschichte und Byrons Fragment erstmals vereint – neu übersetzt und herausgegeben von Reinhard Kaiser. Der aufschlussreiche Anhang mit Nachwort Kaisers und Zeittafeln liefert wichtige Hintergrundinformationen – etwa zur verschlungenen Publikationsgeschichte. Denn nur durch einen Zufall gelangte Polidoris Manuskript an einen geschäftstüchtigen Verleger. Dieser schrieb die Erzählung zunächst Lord Byron zu ("The Vampyre. A Tale by Lord Byron", 1819) – was offenbar den Erfolg beflügelte. Noch im gleichen Jahr kam die erste deutsche Übersetzung heraus, als Autor wurde auch hier Byron genannt. Goethe lobte die Erzählung als "Byrons bestes Product", so Kaiser. Zu seinen Lebzeiten konnte Polidori diesen Irrtum nicht mehr aus der Welt schaffen.

Übrigens: Die zweite bleibende Nachtgestalt aus dem "Jahr ohne Sommer" fand sich 1818 erstmals zwischen zwei Buchdeckeln wieder: Mary Shelleys "Frankenstein oder Der moderne Prometheus".

Polidori, John William / Lord Byron: Der Vampir. Eine Erzählung. Herausgegeben, aus dem Englischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Reinhard Kaiser. München: C.H. Beck, 2014, 120 S., mit 8 Abb., Klappenbroschur, 14,95 Euro, ISBN 978-3-406-67011-4