Literarischer Abend im Berliner Büro des Börsenvereins

Die Vielfalt des kulturellen Europa

16. Juli 2015
von Börsenblatt
Zum dritten Mal kamen in der Reihe „Literatur trifft Politik“ Politiker, Kulturschaffende und Kulturinteressierte im Berliner Büro des Börsenvereins zusammen. Am Dienstagabend war unter dem Motto „Vielfalt ist Stärke“ zu Lesungen und Diskussion geladen. Durch den Abend mit Katja Hensel, Jagoda Marinic, Andreas Schäfer und Feridun Zaimoglu führten die Bundestagsabgeordneten Marco Bülow und Burkhard Blienert, beide sind Mitglieder im Kultur- und Medienausschuss des Bundestages.

Während es über der Berlin-Mitte dämmerte und schließlich Nacht wurde, erörterten im Berliner Büro am Schiffbauerdamm die unterschiedlichsten Stimmen aus Kultur und Politik das Thema Europa. Unter dem Motto „Vielfalt ist Stärke“ kommen die Autoren mit Migrationshintergrund aus Kroatien, Griechenland und der Türkei zu Wort. Würde man Europa und seinen Anspruch an die kulturelle Vielfalt ernst nehmen, wäre jede Debatte um Migrationshintergründe eigentlich überflüssig, so der Tenor, doch die Realität sieht anders aus, darin stimmten die Künstler überein.

In Jagoda Marinics Roman „Restaurant Dalmatia“ sucht eine wie die Autorin selbst in Deutschland aufgewachsene junge Frau ihre kroatischen Wurzeln - und entdeckt die miteinander verwobene Geschichte ihrer beider Heimatländer. Feridun Zaimoglus Protagonistin Isabel im gleichnamigen Roman, die wie ihr Schöpfer aus der Türkei stammt, dagegen trennt ihre Heimaten, die Türkei und Berlin. Während Isabel sich nirgends so richtig zuhause fühlt, ist Gabor Lorenz, Hauptfigur des neuen Romans „Gesichter“ von Andreas Schäfer (der selbst eine griechische Mutter und einen deutschen Vater hat), angekommen - in Deutschland, in Berlin, in seinem Leben. Die Begegnung mit einem griechischen Flüchtling, symbolisch die Konfrontation mit dem hässlichsten Gesicht der Migrationsthematik, bringt Lorenz‘ Leben aus der Bahn.

Doch „diese ganze Herkunftsscheiße“, das Gewicht einer Geburt, einer Familie außerhalb der deutschen Grenzen, sei ein Nebel, stellt Zaimoglu fest, der Kulturschaffende dazu verleite, „die Dinge hinzubiegen“. Offensichtlich macht es Schwierigkeiten, Migrationsthemen und die Themen, die Autoren mit Migrationshintergrund setzen, als deutsche Themen zu betrachten. Diese Themen seien aber selbstverständliches und authentisches Moment in der Literaturlandschaft und reflektierten den Prozess der Europäisierung, ergänzt Marinic. Während Restaurants im Balkan zu Zeiten der Wende noch „Café Genscher“ hießen und sich zehn Jahre später verheißungsvoll „Europa“ nannten, trügen sie heute vermehrt den Namen „Café Ego“. Eine bedeutungsschwere Entwicklung, wie die Künstlerin feststellt.

Doch es ist nicht nur die Herkunft, nicht nur die Vergangenheit europäischer Identitäten, die an diesem Abend eine Rolle spielen sollen: Auch die Zukunft Europas, der EU, müsse künstlerisch verarbeitet werden, findet Dramaturgin Katja Hensel. Wie die Romane der anderen Diskussionsteilnehmer sind auch ihre Theaterstücke von einer individuellen, emotionalen Erzählperspektive geprägt, weisen jedoch gleichzeitig auf eine andere europäische Dimension hin: die politische. Ihr Stück „EU only lives twice“ handelt von einer überforderten EU-Parlamentarierin, die eine Doppelgängerin braucht, um all ihrer Verantwortung gerecht werden zu können. Bezugnehmend auf ein weiteres ihrer Stücke, „Wie Europa gelingt. Eine EU-Familienaufstellung“, argumentiert Hensel, dass es bei einer bloßen Beweihräucherung des eigenen Schicksals nicht bleiben kann, dass die Beschäftigung mit historischen Traumata der EU einer mehr zukunftsfähigen Debatte um die Möglichkeiten eines Miteinander weichen müssen.

Auf eine einzige Antwort für die drängenden Fragen dieses Abends und dieser Zeit kann man sich freilich nicht einigen – allen Künstlern gemein ist wohl aber die Leidenschaft, mit der sie ihnen auf den Grund gehen. Und vielleicht ist diese Leidenschaft das wahre europäische Thema - ob mit Migrationshintergrund oder ohne.

 

Die Bücher der anwesenden Autoren:

Andreas Schäfer: "Gesichter", 252 S. Dumont 2013, 19,99 bzw. 9,99 Euro

Jagoda Marinic: "Restaurant Dalmatia", 239 S. Hoffmann & Campe 2013, 19,99 Euro

Feridun Zaimoglu: "Isabel",  236 S. Kiepenheur & Witsch 2014, 18,99 Euro

Informationen und Voransichten von Katja Hensels Stücken auf ihrer Website.

 

Katharina Heger