Lob der Ermessensfreiheit

6. Juli 2015
von Börsenblatt
Qualität ist nicht quantifizierbar − der Buchhändler kann, darf, muss sich ein subjektives Urteil bilden. Buchhändler müssen wieder Experten werden. Sie müssen wieder zurück zur Instanz, die sie einmal waren. Meint Michael Schikowski.

Jeder hat schon einmal mittels eines mehr oder weniger ­passenden Gegenstands einen ­Nagel eingeschlagen. Dabei zeigt sich, dass der Gegenstand, den man wie einen Hammer nutzt, zu einem Hammer wird − zumindest zeitweilig. Nicht anders hat man in der Branche die letzten drei Jahrzehnte vergeblich versucht, aus Büchern ganz gewöhnliche Dinge zu machen. Dinge wie Taschenlampen, Mäntel oder Vollwaschmittel. Durch die Behandlung der Bücher als bloße Dinge wie ­andere auch, wurden sie Dinge wie andere auch. Man war sehr davon überzeugt, dass es auf die Vermittlung der Bücher in der Buchhandlung nicht ankomme. Das Ergebnis: Marktversagen.  

Wieso wollte man aus Büchern Dinge machen? Weil es so einfacher ist. Die prinzipielle Unvergleichlichkeit der Bücher wurde durch Austauschbarkeit der Dinge ersetzt. Bequeme Quantifizierung (wie oft verkauft) ersetzte komplexe Qualifizierung (wie fand ich es?). Das führte zu einer unübersehbaren Krise, dem ­Marktversagen aufgrund einer Vertrauenskrise der Kunden.

Die Unsicherheit über die "wirkliche" Qualität des Produkts ist im Buchhandel aber chronisch. Im Unterschied zu allen anderen Dingen ist ein neues Buch in seinem Gehalt und seiner Wirkung eben nicht so vollständig bekannt wie, sagen wir, eine neue Taschenlampe. Daher ist das Buch eher einer Kinokarte vergleichbar.

Das Vertrackte daran ist, dass selbst nach der Lektüre, wie nach einem Kinobesuch, Unsicherheit darüber herrscht, wie man es nun "eigentlich" fand. Professionelle Kritik ist da auch nur bedingt eine Hilfe. Im Gegenteil, die Besonderheiten eines Romans, eines Sachbuchs werden durch Kritik gerade erst deutlich. Was sich als Entscheidungshilfe gibt, besteht am Ende in nichts anderem als der Aufforderung, sich selbst ein Bild zu machen. Buchhändler brauchen Ermessensfreiheit in ihrer Waren- und Kundenbeziehung. Die Anzahl der Produkte korreliert mit der Möglichkeit, flexibel zu reagieren. Genau dies aber versuchte man abzuschaffen. So gehen jedem Marktversagen in gewisser Weise auch die Marktversager voraus.

Geschmacksbildung setzt Zeit und Erfahrung voraus. Diese Zeit hielten die Marktversager für Zeitverschwendung und die Erfahrung delegierten sie an Talkshows und Zeitungen. Ihre Vorstellungen bedeuten das genaue Gegenteil von eigen­ständiger Geschmacksbildung: ein vorgeblich objektives Urteil in einem Satz.

Geschmacksbildung ist ein auf subjektiven Erlebnissen beruhender sprachlicher Vorgang. Idealerweise wird ein Lernprozess in Gang gesetzt, an dessen Ende die Erfahrungen anderer zu den eigenen Erlebnissen am Objekt ins Verhältnis gesetzt werden können. Der Lernprozess besteht vor allem darin, Erlebnisse am Objekt in Worte zu fassen. So setzt die Fülle subjektiver Erlebnis­reize die sprachlichen Mittel voraus, diese in einem subjektiven Urteil eigenständig zu formulieren.

Wer nicht sieht, wovon hier eigentlich die Rede ist, und weiterhin glaubt, dass das Marktversagen mit nur noch verschärfter Quantifizierung zu meistern sei, macht die Krise zum Dauerzustand. Quantifizierung ist außerdem ein Trick derjenigen, die Selbstdenken überfordert und daher das Selbstdenken der Mitarbeiter zu verhindern suchen.

Buchhändler müssen wieder Experten werden. Buchhändler müssen wieder verstärkt Träger der Qualität werden. Sie müssen wieder zurück zur Instanz, die sie einmal waren. Hört sich gestrig an? Eine andere Zukunft als diese Vergangenheit haben die Bücher kaum.