Public Viewing – und was wir daraus lernen können

6. Juli 2015
von Börsenblatt
Aus dem Phänomen des Public Viewing könnten Buchhändlerinnen und Buchhändler interessante Schlüsse ziehen, meint Alexander Skipis, Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins. Sie könnten erkennen, dass neben einem komfortablen Einkauf auch das konkrete Erlebnis einer Buchhandlung wichtig ist.

Es ist schon merkwürdig: Menschen verabreden sich zum gemeinsamen Sehen eines Fußballspiels. Dabei nehmen sie in Kauf, dass es in den Kneipen laut, der Blick auf den Fernseher vielleicht eingeschränkt und die Wartezeit auf das kühle Bier etwas länger ist. Sie sitzen mit schreienden und schwitzenden Menschen Seite an Seite. Sie gehen auf öffentliche Plätze und stehen oder sitzen unbequem, ohne auch nur im Entferntesten an das Komfortniveau der eigenen Wohnung heranzureichen.

Daheim stünde der Plasmabildschirm dominierend im Wohnzimmer, als Zuschauer säße man in der ersten Reihe auf der Couch, das kühle Bier in Griffweite und zur sofortigen Verfügbarkeit im Eisschrank, und man könnte selbst bestimmen, mit wem man dieses Spiel anschauen möchte. Man hätte die Herrschaft über die Fernbedienung und wäre weder gewissen olfaktorischen Zumutungen noch anderen Bedrängungen begeisterter Kollektive ausgesetzt.

Aber nein – alle schauen public. Was ist bloß los mit den Menschen? Sind sie doch das Zoon politikon im aristotelischen Sinn, das nach Gemeinsamkeit sucht und das gemeinsame Erlebnis möchte? Auf Gemeinschaft angelegt und nicht auf Vereinzelung? Zum Marktplatz hin orientiert und nicht zur Mattscheibe? Das wäre jedenfalls eine Überraschung. Denn zurzeit will uns eine neue Bewusstseinsindustrie einreden, dass die Komfortstufe das Höchste sei, was der Kunde wünscht. Am besten zuhause vor seinem Computer sitzend, steuert er sein gesamtes Leben, seine Versorgung, den Einkauf von Waren, die Kommunikation mit anderen Menschen. An Geselligkeit in öffentlichen Räumen hätten diese digitalen Couch-Potatoes keinen Bedarf.

Was können wir aber aus dem Massenphänomen des Public Viewing lernen? In der Wertehierarchie des Kunden steht doch offensichtlich ganz weit oben das Gemeinschaftserlebnis: die Identifikation, das Erleben einer mit vielen anderen geteilten Leidenschaft. Und das nicht elektronisch, sondern sehr analog; nicht im privaten Wohnzimmer, sondern auf der öffentlichen Fanmeile. Buchhändlerinnen und Buchhändler könnten daraus interessante Schlüsse ziehen. Sie könnten erkennen, dass neben einem komfortablen Einkauf auch das konkrete Erlebnis einer Buchhandlung wichtig ist. Dass nicht nur die persönliche Beratung und die sofortige Verfügbarkeit von Büchern, sondern eben auch das Erlebnis der Identifikation und der Austausch mit Gleichgesinnten eine Rolle spielt.

Die WM in Brasilien wird bald schon Vergangenheit sein. Die Grundbedürfnisse des Zoon politikon werden bleiben. Also dann: Public Reading, Public Speaking, Public Adventure, Public Feeling in der Buchhandlung.