Andrej Kurkow ist selbst ethnischer Russe, der in der Ukraine aufgewachsen ist. Bekannt durch Romane wie „Der wahrhaftige Volkskontrolleur" und „Der unbeugsame Papagei" (beide Haymon), beschreibt er mit scharfem Blick den Umschwung des friedlichen Protests auf dem Kiewer Euro-Majdan zum Bürgerkrieg in der Ukraine. Kurkow kommt herum – so viel, dass dem Tagebuch ein Ortsregister beigefügt ist. Als einer der berühmtesten Autoren seines Landes folgt er zahlreichen Einladungen und organisiert selbst unermüdlich kulturelle und politische Veranstaltungen – vor allem hat er gelernt, zuzuhören und genau zu beobachten. Warum, so fragt er sich im März, zeigt die russische Wetterkarte neben der Krim auch das Donezbecken und die ostukrainische Stadt Charkiw? Er berichtet auch von anderen Majdanen in der Ukraine, die der Blick aus dem Westen kaum je gestreift hat.
Sein Tagebuch ist spannender als so mancher Thriller – in einer ungeheuren Dichte schleudert es uns in Kurkows Alltag: Wir erfahren wie auf dem Majdan die Miliz die Protestierenden bei Minusgraden mit Wasserwerfern bedrängt (sie weichen nicht), wie Sondereinheiten Menschen jagen und verschleppen, ermorden, wie noch vor der Flucht des kriminellen Ex-Präsidenten Janukowytsch russische Einheiten die Krim infiltrierten, wir staunen über den Alltag auf dem Majdan, über die Ängste und Sorgen der Protestierenden, die Rolle der Studenten und die verschiedenen Gruppierungen, die in der Ukraine nur wenige Jahre nach der Orangenen Revolution um die Macht kämpfen – von Begegnungen Kurkows auf seinen Reisen und dem Alltag des zweifachen Familienvaters, dessen Söhne mal wieder die Schulhefte vergessen haben oder das Heine-Gedicht immer noch nicht auswendig können.
So adrenalingeschwängert Kurkows Einträge an vielen Stellen sind – oft zwingt er sich zur Nüchternheit, hält sich mit knirschenden Zähnen zurück – er mag vor der Veröffentlichung Passagen entschärft haben – nur einmal nennt er Janukowytsch ein Arschloch. Seine Gedanken mögen düsterer gewesen sein: Als die Reifen auf dem Majdan brannten und Scharfschützen auf Krankenschwestern schossen: „Heute früh wusch ich mir das Gesicht und blickte aufmerksam in den Spiegel. Wie es aussieht, bin ich in den letzten drei Monaten rund fünf Jahre gealtetert", stellt er Ende Februar fest.
