Neu im Regal: Lesetipp der Woche

Zur Hölle mit der Gerechtigkeit!

3. März 2015
von Börsenblatt
Polyp erzählt das Drama der menschlichen Zivilisation – in Bildern statt Worten. Der Comicband „Sprachlos. Eine Weltgeschichte ohne Worte“ strotzt vor Provokationen und ist so schön anarchistisch, dass man ihn nicht aus der Hand legen will.


Na klar – die Geschichte wird von den Siegern geschrieben. Aber nicht bei Polyp: Sein Comic ist eine wilde Geschichte von unten: Reduziert auf die groben Linien erscheinen die „Großen“ und mächtigen Figuren der zivilisatorischen Geschichte als blutrünstige, gierige, geile, nimmersatte Moloche, die auf den Kleinen herumtrampeln, sie quälen und unter dem Zeichen einer Religion oder eines politischen Systems unterjochen. Besonders hart trifft es dabei Frauen und Minderheiten. Dieses Muster wird von den frühen Hochkulturen der Antike bis in die Gegenwart in großen Bögen stets aufs Neue durchgespielt, auf Doppelseiten, die den Atem stocken lassen, mitunter sind vier Bilder auf einer Seite versammelt – zu kleinteilig wird es nie. Man blättert wie im Rausch durch den großformatigen Bildband.Besonders die christliche Religion, Generäle und der Kapitalismus werden an den Pranger gestellt – oder bekommen den Spiegel hervorgehalten. Darüber, wie dicht dran an der Wahrheit Polyp bei seiner ganz und gar außergewöhnlichen Deutung der Weltgeschichte ist, lässt sich trefflich streiten. Das Unausgesprochene in Worte zu fassen, das macht den Reiz beim Betrachten seiner starken Bilder aus. Dass Polyp es schafft, den Bogen von den Stammeskulturen Afrikas über die Antike bis hin zum Kolonialismus, über Weltkriege bis in die Gegenwart zu schlagen – und seiner Bildersprache dabei treu zu bleiben, das nötigt Respekt ab. Eine ungewöhnliche Lektüre, die bereits von den ersten, verspielten Seiten fesselt.
Polyp: „Sprachlos. Eine Weltgeschichte ohne Worte“, Tibia Press,  104 S., 19,80 Euro. kum