Neu im Regal - Lesetipp der Woche

Tänzerinnen, Arbeiter und ein flinker Hase: Montmartre

3. März 2015
von Stefan Hauck
Sacré-Cœur, Moulin Rouge, der schönste Blick auf Paris. Klar, hat jeder schon mal gehört. Was vielen nicht bewusst ist: Vor 100 Jahren war Montmartre ein bäuerliches Dorf am Rande von Paris – und just hier arbeiteten van Gogh, Toulouse-Lautrec, Utrillo, Picasso, entstand die Kunst der Belle Époque. Ein großartiger Band arbeitet diese Spuren auf.

Katasterpläne und viele Fotos geben eine ersten Eindruck vom ländlichen Montmartre mit Steinbrüchen, Weinbergen, Windmühlen, schiefen Häuschen. In diesen ärmlichen Unterkünften fanden im Fin de Siècle Künstler billige Zimmer, um zu arbeiten, sich auszutauschen und von hier aus in die Hauptstadt einzutauchen. Viele Fotos geben Eindrücke von der Welt damals, zeigen Cafés, Varietés, Kabaretts, wo die Maler bei den Wirten Schulden anschreiben ließen oder mit Bildern bezahlen konnten – im "Lapin Agile", dem "Flinken Hasen", hing das einzige Werk Picassos, das vor 1912 öffentlich in Paris zu sehen war. Mit Blick auf das Thema pointiert ausgewählte Gemälde zeigen Arbeiter, Clochards, Tänzerinnen, Prostituierte, Wäscherinnen, Gaukler – das Leben eben.Das Festhalten der Realität wurde Programm.

In Bild und Text illustriert der großformatige Kunstband das Netzwerk von Künstlern, Agenten und Kunsthändlern, präsentiert bekannte Maler wie Suzanne Valadon, Théophile-Alexandre Steinlen und Pierre Bonnard und die oben genannten, aber auch unbekanntere wie Henri-Gabriel Ibels und Max Jacob, die lohnen. Eine Entdeckung: In unglaublicher Bandbreite von Zeichnung, Ölbild, Lithographie ist in diesem Band das vielfältige Talent von Henri de Toulouse-Lautrec zu bestaunen.

Debatte um Massendruck, Original und limitierte Abzüge

Besonderen Raum nimmt in "Esprit Montmartre – Die Bohème in Paris um 1900" die Druckgrafik ein; die Flut der Plakate ab 1880 insbesondere von Stars wie Jules Chéret und Toulouse-Lautrec zeigt die neue Verschränkung von Bild und Text, teils mit Experimenten wie Lautrecs "Divan Japonais", der 1892 unerwartet den Raum ins Bild holt und damit der Moderne neue Möglichkeiten eröffnete. Die massenhafte Vervielfältigung brachte Geld und steigerte den Bekanntheitsgrad des Künstlers – die Debatte um Massendruck, Original und limitierte Abzüge fing an. Eine Farblithographie von Lautrec für die Zeitschrift "L' Estampe originale" 1893 zeigt den Drucker Père Cotelle an seiner Druckerpresse, neben ihm die Startänzerin Jane Avril, die kritisch einen druckfrischen Abzug prüft. Montmartre wurde im Fin de Siècle zum Synonym für die Druckgrafik.

All das wird ebenso sorgfältig geprüft wie flüssig erzählt. 26 Künstler stellt der Kunstband im Kontext vor, als Bonus gibt es einen ausfaltbaren großen Stadtplan für Paris-Reisende, in dem die Ateliers und Wohnungen von Künstlern und Schriftstellern wie Vergnügungsstätten eingezeichnet sind. Wer diesen Band in bester Druckqualität gelesen und in Betrachtung erfahren hat, wird beim nächsten Paris-Besuch Montmartre mit anderen Augen sehen - denen des Wissenden.

Ingrid Pfeifer, Max Hollein: "Esprit Montmartre – Die Bohème in Paris um 1900". Hirmer, 320 S., 330 Abbildungen in Farbe und Schwarz-Weiß, inklusive Plan des Montmartre (24 x 29 cm), 49,90 Euro

(Die Ausstellung zum Buch ist in der Schirn Kunsthalle Frankfurt noch bis 1. Juni zu sehen.)